Klagelieder aus Washington

Das Endergebnis aus Florida bringt noch nicht das Ende des US-amerikanischen Nachwahldramas – egal, ob Gore oder Bush zunächst als Sieger dastehen. Am kommenden Freitag beginnt zunächst ein Verfahren vor dem Obersten Gericht der USA

aus Washington PETER TAUTFEST

Was immer die Innenministerin Floridas am Sonntagnachmittag um 17 Uhr Ortszeit über den Wahlausgang in ihrem Bundesstaat verkündet hat: Es ist noch längst nicht das letzte Wort. Zum Erstaunen der meisten Rechtswissenschaftler hat das Oberste Gericht am Freitag beschlossen, eine der beiden Klagen der Bush-Kampagne anzunehmen. Die Anhörungen sollen am kommenden Freitag beginnen.

Das Gericht will prüfen, ob das Urteil des Obersten Gerichts Floridas, die manuellen Auszählungen in verschiedenen Stimmbezirken zuzulassen und dafür die Frist zur Bekanntgabe des amtlichen Endergebnisses zu verschieben, gegen die Verfassung sowie gegen ein Bundesgesetz aus dem Jahre 1887 verstößt. Die fraglichen Paragraphen schreiben vor, dass Wahlen nach vom Landtag der Bundesstaaten festgesetzten Regeln abgehalten werden. Auch die Regeln der Auszählung müssen demnach vor dem Wahltag festgeschrieben sein.

Die Klage in Washington bewirkt vor allem eins: Liegt Bush nach Eingang der Nachzählergebnisse in Tallahassee knapp vorn – nach inoffiziellen Zählergebnissen war sein Vorsprung zeitweise von 930 auf 377 Stimmen geschrumpft, während in Palm Beach County allerdings noch gezählt wurde –, so fehlt selbst diesem Ergebnis die nötige Endgültigkeit. Damit haben die Anwälte George W. Bushs in gewisser Weise ein Eigentor geschossen. Hatte Floridas Oberstes Gericht für den gestrigen Tag einen Schlussstrich unter die längste Nachwahlkampagne in der Geschichte der USA ziehen wollen, dürfte das Ende des Dramas nun mindestens noch eine Woche auf sich warten lassen.

Unabhängig vom Ausgang der Nachzählergebnisse haben beide Kampagnen angekündigt, die Wahlergebnisse anfechten zu wollen – je nach Ausgang. Gore will die Auszählergebnisse im Landkreis Miami-Dade anfechten, weil die Wahlleiter dort unter dem doppelten Druck der vom Gericht gesetzten Frist und der republikanischen Demonstrationen die Zählung abgebrochen haben.

Gore will auch die Standards in einigen Zählbezirken anfechten, in denen eingedellte (statt durchstochene) Lochkarten nicht als Stimme für Gore gewertet wurden. Am Samstag veröffentlichte die New York Times Grafiken der Wählmaschine, die zeigen, wie leicht Lochkarten nur unzureichend durchstochen werden können.

Klage soll auch gegen den Landkreis Nassau geführt werden, in dem die Wahlleiter darauf verzichteten, das neue, durch eine maschinelle Nachzählung erreichte Ergebnis zu melden, in dem Bush 56 Stimmen verloren hatte. Bush seinerseits will gegen ein halbes Dutzend Landkreise klagen, damit Briefwahlzettel neu gezählt werden, die wegen fehlender Poststempel ausgeschlossen worden waren.

Sollte Bush zum dritten Mal seit dem 7. November zum Wahlsieger erklärt werden, hat er eine delikate Aufgabe: Gebärdet er sich zu früh als künftiger Präsident, wird ihm das womöglich wieder übel genommen. Aber auch Gore hat es nicht leicht. Ihm hängt immer mehr das Image des schlechten Verlierers an. Immerhin: Hatte es in der vergangenen Woche so ausgesehen, als verliere Gore in seiner eigenen Partei an Unterstützung, so haben die Demonstrationen und das Auftreten republikanischer Politiker in Florida den gleichen Effekt gehabt wie vor zwei Jahren die republikanische Entschlossenheit, das Impeachmentverfahren gegen Präsident Clinton unbedingt durchzuziehen. Die Reihen der Demokraten schließen sich.