In der Kinderhauptstadt

Wahre Lokale (47): Die dem ewigen Frieden nahe „Hesserwirtschaft“ zu Heilbronn

Punkt 24 Uhr ist an beiden Abreißkalendern oberhalb des Kachelofens Datumswechsel

Schön ist diese Wirtschaft nicht unbedingt, aber innen drin ist es unbedingt am schönsten. Nach allgemeiner Übereinkunft praktisch aller Bürger der württembergischen Winzerstadt Heilbronn ist die maßgeblichste und das Gemeinwesen überhaupt dominierende Gaststätte die seit 1919 in Familienbesitz befindliche und freilich auch nach ihr benannte „Hesserwirtschaft“. Zwar redet das Brauereischild noch immer halsstarrig von „Kernerhöhe“, aber nur wer nach dem „Hesser“ resp. dem „Hesserbeck“ fragt, bekommt den Weg hinauf zum Hauptfriedhof gewiesen, dem das unscheinbare Lokal als gastfreies Memento mori gegenüberliegt, als letzte Tankstelle vor der Endstation. Früher oder später landet jeder mal da: Wer jedoch selbst zu verstorben ist, wird seinen Trauerzug nach stattgehabter Verlochung verlässlich beim „Hesser“ antreffen können, wo bei Hefezopf und Kaffee darüber zu beratschlagen ist, wer wohl der Nächste sein möchte.

Der Ausschank präsentiert sich schlicht und ergreifend, alles Notwendige ist vorhanden: Stuhl zum Sitzen, Tisch, damit das Getränk nicht runterfällt, Abtritt. Das Licht, das zwischen den Fünfzigerjahre-Vorhängen hindurchrieselt, ist so mild, wie die Preise reell sind. Das Viertele drei, der Schnaps einsachtzig, Schnitzel mit Brot zehn Mark, mehr muss es nicht sein. Unbesetzte Tische werden, obwohl Energiesparlampen vorhanden, nur ungern beleuchtet. Den länglichen Raum queren fünf parallel zueinander stehende Standard-Resopaltische, der monolithische Tresenblock ist ihnen wie ein Altar längsständig zugewandt. Tisch eins nächst dem Eingang wird von ostentativ anwesenden Regressionstrinkern bewohnt, die aber selbst nach jahre- und jahrzehntelanger Daueranwesenheit jederzeit mit restriktiven Maßnahmen von Wirtsseite rechnen müssen. Regelmäßig spricht bis heute ein unter dem Decknamen „Zaubermeister“ agierender Herr vor und erkundigt sich, ob das vor Jahren schon gegen ihn verhängte Lokalverbot mittlerweile aufgehoben sei – ist es aber nicht.

Der kärgliche Schankraum ist auch das Wohnzimmer der Hesserfamilie, welche ihr nicht durchgängig harmonisches Familienleben freigiebig vor allen Gästen aufführt. Türenknallen, Auftritt links, Familienduell, Ansprache ans Publikum, Abgang rechts und retour – wie bei Ohnsorgs daheim. Ruhiger ist es aber geworden, seit Vater Heinz nun gänzlich absent ist. Zuletzt fuhr er nur noch mittels eines monströsen Treppenhausaufzuges zwischen oberer Wohn- und unterer Gaststube hin und her, um die Kneipenbesucher aktiv an seinem umfassendem Verfall teilhaben zu lassen. Mit einem Staatsbegräbnis erster Klasse wurde er nach gegenüber geschafft. Noch versieht Witwe Helene Hesser nach besten, aber leider ebenfalls schwindenden Kräften die Küche, wozu ihr unlängst eine wuchtige Frau Edelmann beigestellt wurde. Den Getränke- und Servierdienst erledigt Frau Maisenhelder, angestachelt, beaufsichtigt und gelegentlich sogar behindert durch den nunmehrigen Erbwirt Lothar Hesser.

Im zweiten Stock könnten Menschen Herberge erhalten, sie müssten aber schon sehr hartnäckig darauf insistieren. Gezielte Frager weiß der Wirt durch verschärftes Gegenfragen einzuschüchtern, seine hochassoziativen Referate sind bei Laien gefürchtet und selbst für Fachleute unausdeutbar. Man hat beschlossen, ihn für hochintelligent zu halten. „Schwätze muss mer doch“, konzediert Lothar Hesser, und er hat Recht. Der heraufziehende „Weltspartag“ beschäftigt das Gemüt, in Ansätzen auch diverse Hergänge im Frankfurter Zoo, nicht zuletzt die politische Situation in „merry old England“. Was aus der Baader-Meinhof-Gruppe geworden ist, weiß hier genau auch keiner. Manchmal gibt es frischen Zwiebelkuchen, der zumeist von Lothar Hesser begeistert verspeist wird; Gäste kriegen die Reste um 2,50 Mark. Im Hintergrund, unterhalb des Fernsehers, steht eine fast leere, jedoch abgeschlossene Glasvitrine, die drei „Ültje“-Packungen beherbergt. Nachfragen leitet Lothar sogleich aufgeregt weiter: „Mutter! Wo isch der Erdnussschlüssel?“ Ein Herr Neuheiser, der sich über Jahre hinweg auf ungebührliche Weise am Spielautomaten betätigt hatte, wurde mitsamt diesem entfernt; am frei gewordenen Wandstück prangt nun ein Aufkleber: „Kinderhauptstadt Heilbronn“.

Letzte Runden liefert Lothar Hesser persönlich aus, darf sich aber nicht dabei erwischen lassen. „Nein, es gibt nix mehr, Lothar!“, jammert Mutter Hesser vom Nebentisch und schneuzt sich erbarmungswürdig. Nach der traditionellen Schlussfrage, ob man vom „Bettschonerverein“ sei, wird das Thermostat heruntergeregelt, Punkt 24 Uhr ist an beiden Abreißkalendern oberhalb des grünen Kachelofens Datumswechsel. Gegen Mittag wird wohl eine Trauergemeinschaft vorbeischauen. Hoffentlich ist es nicht die eigene.

HERBERT F. KIETZNICK