DIE NIEDERLANDE HABEN DIE STERBEHILFE JETZT LEGALISIERT
: Die formierte Gesellschaft

Im US-Bundesstaat Oregon wurde Mitte der 90er-Jahre eine gesetzliche Regelung verabschiedet, die ärztlich unterstützten Selbstmord erlaubt. Das bedeutet: Noch immer müssen die Patienten selbst auf den Knopf drücken, damit das tödliche Gift in ihre Körper fließt. Die Regelung wird kaum in Anspruch genommen. Die Niederlande gehen weiter: Sie schreiben sich stolz zu, der erste Staat zu sein, in dem die „Euthanasie“ vollständig legalisiert ist. Allerdings wurde bisher die Tötung auf Verlangen durch einen Arzt bereits geduldet – und führte dazu, dass schon heute annähernd 3.000 Niederländer pro Jahr auf eigenen Wunsch durch die Hand ihres behandelnden Arztes sterben.

Seit vielen Jahren wurde diese Praxis von der Strafverfolgung ausgenommen; dass sie jetzt gesetzlich abgesichert wird, begründen „Euthanasie“-Befürworter mit der größeren Transparenz, wenn niemand mehr Angst vor einer Strafverfolgung hätte. Doch kann diese Angst nicht groß sein: Auch bislang wurden jährlich mehr als tausend Fälle registriert, in denen Ärzte ihre Patienten ohne Einwilligung direkt getötet haben (und noch viel öfter indirekt durch Abbruch der Behandlung oder zu hohe Schmerzmittelgaben). Doch in keinem einzigen Fall kam es zu einer Verurteilung.

Zudem: Wofür soll die neue Transparenz gut sein? Darüber schweigen die Befürworter des Gesetzes. Während in Oregon die Legalisierung der Sterbehilfe gleichzeitig eine Kampagne für die Verbesserung von palliativer Medizin und Schmerztherapie in die Wege geleitet hat, ist dergleichen in den Niederlanden nicht zu beobachten; dabei belegen Untersuchungen, dass dort die Schmerztherapie bei vielen Krebspatienten unzureichend ist. Auch ansonsten gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass die Erfassung der „Euthanasie“-Ziffern einen anderen Zweck hätte, als das eigene Modell zu bestätigen: Weil so oft auf Verlangen getötet wird, ist es richtig, es nicht zu bestrafen, weil wir sonst nicht wüssten, wie oft es geschieht.

Dass „Euthanasie“ nun in den Niederlanden gesetzlich erlaubt und nicht mehr nur geduldet ist, lässt aber auch nicht alles beim Alten. In den westlichen Industriestaaten muss menschliches Leben zusehends normativen Anforderungen genügen und ist dem Zugriff der Medizin in immer größerem Umfang ausgesetzt. Die Legalisierung der „Euthanasie“ bringt zum Ausdruck, dass das Tötungstabu zunehmend beseitigt wird, das die Kultur den westlichen Industriegesellschaften bisher geprägt hat. Sie ist damit ein weiterer Versuch, die Gesellschaft durch Begrenzung des Lebensschutzes zu formieren.

Das stößt auch in anderen europäischen Staaten auf Interesse. OLIVER TOLMEIN