Der Sound der Wechseljahre

Ob Abba oder AC/DC oder a-ha: „Hey Music“ gehörte zur Musiksozialisation von Generationen Berliner Teens. Morgen läuft die älteste Radioshow der Stadt zum 1.500. Mal. Und so klingt sie auch

von PHILIP MEINHOLD

Durch lange, verwaiste Flure geht es in die Vergangenheit. Die Schritte hallen, der Fahrstuhl rumpelt – an einem Freitagabend im Haus des Rundfunks, Masurenallee 8 bis 14. Die Adresse ist wie ins Gedächtnis gebrannt. Hier entsteht in einem fensterlosen Raum „Hey Music“. Ein Mann sagt „hallo“. Man erkennt seine Stimme. Und die Erinnerung schreit: Ach ja!

Als ich 12 war, konnte ich nie die drei Erstplatzierten hören. „Hey Music“ lief am Donnerstagabend, ich aber musste spätestens um halb zehn ins Bett. Dass DÖF mit „Bodo“ die neue Nummer eins war, ließ ich mir am nächsten Tag in der Schule erzählen. Später dann wurde „Hey Music“ verlegt – und Moderator Jürgen Jürgens zum Begleiter durch öde Sonntagnachmittage. Aus den Lautsprechern kam Paul Young und aus der Küche das Streiten der Eltern. Das war der Soundtrack zur Pubertät.

Wie mir ging es vielen, davor und danach. Für Generationen von Berliner Jugendlichen gehörte „Hey Music“ zur Musiksozialisation. Egal ob Abba, AC/DC, a-ha: Die größten Hits der 70er, 80er und 90er gab es hier bei ihrem Erscheinen zu hören. In der Bravo las man, was angesagt war, und bei „Hey Music“ nahm man es auf. Die Finger startbereit auf der Aufnahmetaste des Recorders, entstanden unzählige Kassetten – mit Hit-Mix beschriftet. Doch immer fehlte den Liedern der Anfang. Oder man hörte Satzfetzen von Jürgens am Songende: „Das war die Neuvorstellung 21“. Da hatte man mal wieder zu spät auf Stop gedrückt.

Damals gab es noch einen Zweikampf der Radio-Charts – zwischen „Hey Music“ auf SFB 2 und „Schlager der Woche“ beim Rias. Heute ist Berlin der härteste Radiomarkt Europas. Hitparaden gibt es so viele wie Sender. Aber „Hey Music“ ist noch immer on air. Morgen zum 1.500. Mal. Die dienstälteste Radiosendung Berlins, vielleicht Deutschlands. Ein Überbleibsel aus Zeiten, als Sender noch nicht wie Frequenzen hießen.

Die erste Sendung erlebte Jürgen Jürgens noch zu Hause am Radio. Das war 1967. Jürgens war 15. Er kämpfte um jeden Zentimeter längeres Haar und hörte am liebsten den Alliierten-Sender AFN. Bis Moderator Rainer Bertram die SFB-Hörer zu „Hey Music“ begrüßte: „Der sagte ‚ihr‘ zu den Hörern, statt sie wie üblich zu siezen. Da habe ich mich direkt angesprochen gefühlt“, erinnert sich Jürgens.

Er interviewte Bertram für seine Schülerzeitung Die Pauke. Bertram fragte Jürgens, ob er nicht auch einmal moderieren wolle. Los ging’s mit einer Sendung, die hieß „Soeben erschienen, soeben eingetroffen“. Zwei Jahre später, im Alter von 17, übernahm Jürgens „Hey Music“.

Gemeinsam überstanden Moderator und Sendung seitdem, was in der Radiowelt eigentlich unmöglich erscheint: neue Sendekonzepte und Chefredakteure, neue Musikfarben und Programmfusionen. „Hey Music“ lief auf SFB 1 und SFB 2, überlebte die Abwicklung von B2 und Radio4U und kehrte zurück zu SFB 1, der zu 88 8 wurde.

Noch immer gibt es die wöchentlichen Neuvorstellungen, noch immer werden die Top 20 von den Hörern gewählt. Und immer noch macht es ihm Spaß, sagt Jürgens. Er sitzt hinterm Mikro und sagt drei Stunden lang Sätze, die vertraut klingen: „Das war die Neuvorstellung 21“. Oder: „Zum fünften Mal dabei, bitte nicht wieder wählen.“

Trotzdem ist alles ganz anders als früher. Die Neuvorstellungen heißen Susanne Kemmler oder Annelie Drecker. Und ganz vorne liegen nicht Nina Hagen oder AC/DC, sondern Wolfgang Petry und Marianne Rosenberg. Das Motto „Die aktuellen Pop-Hits“ scheint weit interpretierbar. Statt Pop-Avantgarde gibt es Abseitiges: Man erfährt, dass die neue Single von Nino de Angelo „Zeig mir bitte nicht . . .“ heißt. Oder dass es Geier Sturzflug noch gibt.

„Breit vertäglich“ müsse die Musik eben sein. „Brit Pop mit schrägen Gitarren gibt es hier nicht.“ Sagt Jürgens, den man doch früher als musikalischen Verbündeten empfand. Vielleicht hat sich mit den Jahren sein Musikgeschmack geändert. Vielleicht ist das auch einfach die Nische, in der „Hey Music“ überleben kann. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem. „Ich habe einen sehr breit gefächerten Musikgeschmack“, sagt Jürgens. Und: „Natürlich ist der Altersdurchschnitt der Hörer hier höher als bei Kiss FM.“

Weshalb es Best-of-Jack-White-CDs zu gewinnen gibt, und Jürgens die Hörerschaft wieder siezt. Wie damals, bevor Rainer Bertram kam. „Hey Music“ ist alt geworden, und das kann man hören. Vielleicht ja der Soundtrack zu den Wechseljahren. Und so kehrt man nach den letzten Takten der Rosenberg, „der alten und neuen Nummer 1“, zurück in die Gegenwart. Halb wehmütig und halb amüsiert. Und fragt sich, ob jetzt irgendwo in Berlin eine Kassette existiert – mit Marianne Rosenberg drauf und einem Halbsatz von Jürgens am Ende des Songs. Dem aktuellen Pop-Hit „Wieder da“.

„Hey Music“ läuft freitags von 20.15bis 23 Uhr auf Radio 88 8. Der Sender heißt wie seine Frequenz.