Altar der Rechtsprechung

Heute streiten die Anwälte Bushs und Gores vor dem Obersten Gericht der USA. Wie das ausgeht, entscheidet nicht über den Einzug ins Weiße Haus – wohl aber über die Zukunft der Gewaltenteilung

aus Washington PETER TAUTFEST

Am heutigen Freitag tritt das Gericht der USA, der Supreme Court, zusammen, um eine Frage von gleichermaßen untergeordneter und überragender Bedeutung zu entscheiden. Es geht nicht darum, wer Präsident wird, diese Frage entscheiden die Wähler, und die Frage, ob und wie deren Stimmen gezählt werden, ist zurzeit vor einem Bezirksgericht in Florida anhängig. Das Oberste Gericht entscheidet eine scheinbar technische Frage, die nämlich, ob das Oberste Gericht Floridas seine Kompetenz überschritt, als es die Innenministerin des Bundesstaats Florida anwies, nachgezählte Stimmen zu einem späteren als dem von Floridas Landtag festgesetzten Termin anzunehmen. „Dies ist eine verfassungsrechtliche Frage, die nichts Geringeres berührt als die Gewaltenteilung“, sagt dazu Harvey Rishikof, Dekan der juristischen Fakultät an der Roger Williams University in Rhode Island, der zwei Jahre lang Assistent des Obersten Richters William Rehnquist war. „Das Urteil wird keine unmittelbare Relevanz für die Entscheidung darüber haben, wer Präsident wird“, ergänzt sein Kollege Edward Eberle, der auch in Münster und Konstanz gelehrt hat: „Wenn Bushs Anwälte Recht behalten, schmälert das technisch gesprochen Gores Chancen nicht, denn unabhängig vom Richterspruch kann er seine Sache in Florida weiterbetreiben. Aber ein Urteil, dass Floridas Oberstes Gericht ins Unrecht setzt, wäre eine moralische Schlappe – und ein Urteil, dass den Spruch des floridianischen Gerichts bestätigt, wäre entsprechend eine Niederlage für Bush, die seinen Anspruch aufs Weiße Haus delegitimieren würde.“

Gegen den Supreme Court, einen neoklassizistischen Bau mitten in Washington, ist der Petersdom in Rom eine Jahrmarktbude. Nichts darf man im Supreme Court, keine Sonnenbrille tragen, nicht fotografieren, nicht mitschreiben (außer der Presse), laut reden sowieso nicht, Handys müssen abgegeben werden, und TV-Live-Übertragung aus dem Gerichtssaal geht nur „über meine Leiche“, sagte einer der höchsten Richter, als der Fernsehsender CNN just das beantragte.

Der Sitzungssaal ist mit schweren roten und goldgesäumten Samtvorhängen drapiert. Doppelte Säulenreihen tragen einen Albtraum aus vergoldeten Stuckblumen, deren Muster im roten Teppich aufgenommen wird, mit dem der Boden bedeckt ist. Auf erhöhtem Podium sitzen am Mahagonitisch die neun Richter in ihren schwarzen Roben in riesigen Kippsesseln. Das bekannteste Gesicht ist das des Obersten Richters William Rehnquist, den das Fernsehpublikum aus der Impeachment-Anhörung vor dem Senat Anfang 1999 kennt, der er vorsaß.

Die Prärogative der sieben Männer und zwei Frauen besteht darin, unausgesetzt zu kippeln und die vortragenden Anwälte jederzeit zu unterbrechen. Verhandlungen finden nach einem strengen Ritual statt. Jede Seite hat akkurat eine halbe Stunde Zeit, ihren Fall vorzutragen und die Fragen der Richter zu parieren – am heutigen Freitag macht das Gericht eine historische Ausnahme: Es wird anderthalb Stunden lang verhandelt.

„Deutsche sind sich der Bedeutung des US Supreme Courts weniger bewusst als andere Völker“, sagt Edward Eberle, Autor des Buchs „Menschenwürde und Persönlichkeit im deutschen und amerikanischen Recht“, „weil das Bundesverfassungsgericht dem Supreme Court nachgebildet ist. Mit der Schaffung dieser Gerichte aber stehen Deutsche und Amerikaner ziemlich einzigartig da. Amerika ist keine Demokratie im rousseauschen Sinne, abhängig von den Launen der Mehrheiten, sondern der erste Rechtsstaat – anders als zum Beispiel England, wo Parlament und Krone alles tun können, außer die Naturgesetze aufzuheben.“ US-Rechtsgelehrte vergleichen den heute verhandelten Fall mit dem bahnbrechenden Verfahren Madison gegen Marbury aus dem Jahre 1803, in dem der damalige Oberste Richter John Marshall das Recht des Obersten Gerichts – und überhaupt der Gerichte – reklamierte, Legislative und Exekutive zurechtzuweisen.

Im anhängigen Fall geht es um die Befugnis der Legislative und Exekutive Floridas, Gesetze im Rahmen der Verfassung auszuformulieren, gegen das Recht der Judikativen, Grenzen zu ziehen. In zehn Jahren wird man auf diesen Fall als wegweisend zurückblicken, auch wenn das Urteil nicht unmittelbar den nächsten Präsidenten bestimmen wird. Ein Urteil wird für nächste Woche erwartet.