Wiegenlied für eine Tote

Warum nur müssen Wiegenlieder, wenn sie halbwegs schön sind, einen nicht so schönen, ja hässlichen Inhalt haben? „Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg, die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt ...“ Vielleicht weil diejenigen, die sie singen, eigentlich selbst des Trostes bedürfen? Und weil die, die schlafen sollen, noch zu klein sind, um den Inhalt zu verstehen? Wer wiegt, der wacht. Und wo gewacht wird, droht womöglich Gefahr.

Auch in der Popmusik ist meist Schlimmes im Verzug, wenn traurig gewiegt und gesungen wird. Ein bemerkenswertes Beispiel lieferte der britische Sänger Morrissey auf seinem Album „Vauxhall and I“ (1994), und er bewies gleichzeitig, dass ein tieftrauriges Lied auch zynisch sein kann – oder vielmehr umgekehrt.

Der Titel seines Wiegenliedes nennt nicht nur die beiden Figuren des Songs, er verrät eigentlich auch gleich die Handlung: Lifeguard sleeping, girl drowning. Rettungsschwimmer schläft, Mädchen ertrunken – das klingt wie eine billige Schlagzeile oder wie ein schlechter Scherz. Bei Morrissey wird aus der Boulevardgeschichte ein mit leiser hoher Stimme gerauntes Requiem.

Erzählen wir – anders als der Song – die Geschichte annähernd chronologisch. Der zweite Teil der ersten Strophe geht so: The shrill cry through darkening air / Doesn’t she know he’s already / Had such a busy day. Das erklärt noch gar nichts. Zum Verständnis braucht es auch noch den Anfang der zweiten Strophe: It was only a test / But she swam too far / Against the tide. Und dann erfahren wir, dass sich der Himmel mit Sternen überzog, als der ausgestreckte Arm des Mädchens sacht in den Wellen versank. Aber wieso heißt es zwischen diesen traurigen Details She deserves all she gets?

Trifft das Mädchen eine Schuld am eigenen Tod? Bei einem Badeunfall – wie hart! Gehen wir nun zum Anfang des Songs. Always looking for attention, heißt es da, Always needs to be mentioned / Who does she / Think she should be? Jetzt erst beginnt sich das Rätsel um ihren Tod zu lichten.

Ihre Selbstüberschätzung war demnach nicht so sehr sportlicher als vielmehr – nun ja – erotischer Natur. Statt, wie kalkuliert, vom Rettungsschwimmer heroisch gerettet zu werden, ist sie schlicht ertrunken. Er hatte einen anstrengenden Tag ...

Die Schnödheit dieses Todes wird dadurch unterstrichen, dass er nicht einmal bemerkt wurde. In der letzten Strophe heißt es: When he awoke / The sea was calm / And another day passes like a dream. Aber wem gilt Morrisseys makabres Wiegenlied? Singt er das Mädchen in den Tod, indem er wispert: Somebody tell her: sshhh? Die Verse Please don’t worry / There’ll be no fuss / She was ... nobody’s nothing zumindest dürften dem Gewissen des Unachtsamen gelten.

War da was? Im Grunde geht die Geschichte so: Jemand hat sich in seiner Ausstrahlung verschätzt. Als Teenager möchte man in solch peinlichen Momenten im Erdboden versinken. Aber normalerweise tut man es nicht.

REINHARD KRAUSE