Der heilende Schmerz

Trauer ist in unserer Welt keine öffentliche Angelegenheit mehr. Und das macht uns krank, der verdrängte Schmerz wird zum seelischen Leichengift, sagt der griechische Psychologe und Trauerforscher Jorgos Canacakis. Denn wer nie gelernt hat zu trauern, dem fehlt die Basis auch für die Liebe

von MARIANNE MÖSLE

Einer der ersten Sätze, den der Essener Trauerforscher Jorgos Canacakis bei unserem Gespräch sagt, offenbart seine Lehrsamkeit. „Ich kann jetzt mit offenem Herzen sagen, dass Niko mein bester Lehrer in Sachen Trauer war.“ Niko? – „Ja, unser Sohn, behindert, 21 Jahre alt, geistig behindert, blind und gelähmt, auf dem Entwicklungsstand eines sechsmonatigen Babys.“

Spät erst hatten seine Frau und er sich entschieden, ein Kind zu bekommen. Im dritten Schwangerschaftsmonat ließen sie eine Fruchtwasseruntersuchung vornehmen, dabei wurde ihr Kind mit der Nadel am Gehirn verletzt. „Da mussten wir lernen, Abschied zu nehmen, Abschied von der Vorstellung eines gesunden Jungen, der gehen lernt und irgendwann Mama und Papa sagen kann. Wir haben lange getrauert.“

Es war mitten im Krieg in Griechenland, als Jorgos Canacakis die Schule besuchte. „Komm, Jorgos“, hat sein Lehrer oft gesagt und ihn auf die Schulbank gestellt, „lass uns mal ein trauriges Lied singen.“ Da weinte die ganze Klasse, nach dem dritten Lied aber waren die Kinder wieder fröhlich.

Gelebte und erlebte Trauer. „Trauer ist ein spontane, natürliche, normale und selbstverständliche Antwort unseres Organismus auf Verlust“, sagt Canacakis. Aber mit Schmerzen und Trauer umzugehen, das müsse man lernen wie eine Sprache. In anderen Kulturen sind es Klageweiber, Schamanen oder Medizinmänner, die einen bei der Hand nehmen und durch die Trauer führen.

Hierzulande jedoch gibt es niemanden, weder Väter noch Mütter, keine Nachbarn, keine Freunde, auch keine Religion mehr, die den Weg kennt, um mit einem endgültigen Abschied umzugehen: „Wir haben das Kaspar-Hauser-Phänomen im Trauerbereich.“

Weil Trauern in einer Gesellschaft der Jugendlichkeit, der Freizeit und des Konsums keinen Platz mehr hat. Ein paar Tage, vielleicht ein Monat Kummer werden dem Mann zugestanden, dessen Frau sich hat scheiden lassen, aber dann sollte er „drüber weg sein“. Allein, ohne Tränen. Auch in der Karwoche und am Karfreitag vor Ostern ist es Christen kurzzeitig erlaubt, in sich zu gehen und den gekreuzigten Sohn Gottes zu beklagen. Aber sonst?

Trauern heißt Schmerzen erleiden. Aber wo Leistung, Konkurrenz und Stärke zählen, sind Schmerzen, Schwächen, Behinderung, Krankheiten und menschliche Begrenztheiten tabu. „Trotzdem, Trauer ist keine Krankheit“, behauptet Canacakis, „sondern ein grundlegendes Phänomen, auf dem andere Emotionen aufbauen“. Wer nie gelernt hat zu trauern, dem fehle die Basis auch für die Liebe.

Die Geschichte der Trauer, so seine These, ist nicht nur eine Geschichte des Umgangs mit dem Tod, es ist auch die Geschichte der Abschiede, der Verluste, Enttäuschungen und der damit verbundenen Aggressionen im Leben. Aggressionen, die in unserem Kulturkreis verdrängt statt ausgelebt werden, Verluste, die kompensiert statt durchlitten werden. Übrig bleiben sie, als „stinkende Leichen im Keller“, wie der gelernte Psychologe formuliert. Bis die Leichengifte sich Luft machen in Form von Melancholie, Selbstmitleid, Depressionen und psychosomatischen Krankheiten. Und auf der politischen Ebene eines Volkes? „Jörg Haider würde es nicht geben, wenn wir wegen des Holocausts richtig getrauert hätten.“

Jorgos Canacakis studierte Operngesang in München. 1974 kehrte er der Bühne den Rücken. Weil er es, nach seinen eigenen Worten, nicht mehr ertrug, von Regisseuren und Dirigenten wie ein Marionette behandelt zu werden. Er besann sich auf die heilende Wirkung der Musik, arbeitete als einer der ersten in Deutschland als Musiktherapeut, studierte Psychologie, wandte sich der Trauerforschung zu und avancierte mit seiner „Akademie für menschliche Begleitung“ in Essen zum Guru der deutschen Trauertherapeuten

Abschied von der Vorstellung, dass der Sohn gesund ist? Es fiel nicht leicht, sagt Canacakis. Zuerst wollte man nicht wahrhaben und so schnell wie möglich ein zweites Kind, das über die Enttäuschung hinweghelfen sollte. Mit Niko selbst wurde unendlich viel Gymnastik veranstaltet. Die Übungen jedoch quälten ihn mehr, als dass sie ihm halfen. Es dauerte lang, bis Vater und Mutter erkannten, dass ihr Sohn ein glückliches Kind ist. Und dass er Eltern brauchte, die ihn so annahmen, wie er war.

„Bei dieser Bewältigung der Trauer half mir, dass ich nach Nikos Geburt meine Forschung über die Trauerrituale in Südgriechenland fortsetzte. Dort konnte ich erfahren und miterleben, wie man mit Verlusten umgeht.“ Dort, das ist die Heimat seines Vaters, auf Mani, im Süden des Peloponnes, wo sich die archaischen Formen der Trauer erhalten haben.

Canacakis begann, die Klageweiber und ihre Trauerrituale zu studieren. „Totenklagen sind Teile uralter Bräuche, eine Urform menschlichen Ausdrucks bei den Ägyptern, den Chinesen, den Juden . . . und sogar bei prähistorischen Menschen“, schrieb er in seinem Buch „Ich sehe deine Tränen“.

In ihrer fast ursprünglichen Form findet man die griechische Totenklage, die so genannte Myroloja, auf der steinig-abweisenden Halbinsel Mani. Es sind Grabeshymnen mit feststehendem Versmaß. In einem strengen zeitlichen Ablauf wird die Myroloja zu Beerdigungen gesungen, drei Tage nach dem Tod eines Angehörigen oder Nachbarn, nach neun Tagen, nach vierzig Tagen.

In einer Art spontanem Zwiegespräch werden Fragen gestellt, symbolische Grüße an den „bitteren Hades“ verschickt. Schmerzen, Wut, Vorwürfe, Ängste, Verzweiflung und Protest kommen zum Ausdruck, ungeklärte Gefühle werden bewusst gemacht, offene Rechnungen mit dem Toten beglichen, Sehnsucht und Liebe dramatisiert. Die Klageweiber singen aus dem Stegreif, Melodie wie Text erfinden sie während des Trauerrituals, die Trauergemeinde singt nach, stöhnt, rauft sich die Haare vor Schmerzen, leidet: „Tantchen, guten Tag dir / und deinem ganzen Freundeskreis / wie geht’s, was machst du, / möchtest du etwas?“

Bloß nicht im stillen Kämmerchen trauern, sondern im Beisein der anderen. „Erst in dem Moment, wo andere uns mit diesen Schmerzen sehen und akzeptieren, können wir sie richtig ernst nehmen.“ Da begehe die klassischen Psychoanalyse mit Sigmund Freud einen großen Irrtum, wenn sie den Psychoanalytiker hinter den Patienten platziere, sagt Canacakis.

Einem derartigen Myroloja-Ritual misst der Psychologe läuternde Wirkung bei, wie man sie aus der klassischen griechischen Tragödie kennt. „Hinterher gehen Menschen heim und verrichten ihr tägliche Feldarbeit.“ Die Untersuchungsergebnisse des Wissenschaftlers sind erstaunlich. Bis zu vierzig Prozent weniger als anderswo leidet die Bevölkerung der Mesamaniregion unter psychischen Störungen.

Natürlich könne man das Trauerritual eines Kulturkreises nicht eins zu eins auf einen anderen übertragen. Trauer zulassen und mit ihr umgehen, heißt auch nicht zwangsläufig, dass man ein Klagelied anstimmen muss. Aber „wenn wir uns den Ritualverlauf anschauen, die Poesie, den Rhythmus der Klagelieder analysieren und das Verhalten der Teilnehmer betrachten“, so der Trauerexperte, „werden wir bestimmt einige Faktoren finden, die wir für Menschen von heute und hier umsetzen können.“

Die Schmerzen? Denen kann man nicht davonlaufen, im Gegenteil, man muss durch sie hindurchgehen, das weiß man in Mani, nur in Mitteleuropa nicht mehr. Mit Hilfe eines Rituals und in dem Bewusstsein, das auf die Nacht ein Tag folgt und auf den Winter ein Sommer. Oder wie es der vietnamesische Revolutionär Ho Chi Minh formulierte: „Nie ist der Morgen so nah wie in der tiefsten Nacht.“ Canacakis ergänzt: „Wenn wir Schmerzen haben und trauern, werden wir lebendig, wir äußern uns, wir haben Kontakt.“ Allerdings: Passiv geschieht nichts. Kreativ zu werden ist besser, egal wie, singen, malen, komponieren, schreiben. Schriftsteller, Maler, Musiker – allesamt, so der Psychologe, traurige Menschen.

Wie gesagt, nicht nur der Tod gibt Anlass zum Trauern. Canacakis Trauerseminare, die er seit fünfzehn Jahren abhält, besuchen die unterschiedlichsten Menschen. Menschen, die an unheilbaren Krankheiten oder Depressionen leiden, viele sozial Engagierte, Ausgebrannte, Menschen, die über Trennungen nicht hinwegkommen, Leute, die einem verlorenen Job, einer verpassten Chance oder einer falschen Entscheidung hinterhertrauern.

„Hier müssen sie lernen loszulassen“, sagt Canacakis. Loslassen von toten Kindern, Eltern oder Geschwistern, die sich zu Vampiren verwandelt haben, sich befreien aus der Vorstellung einer heilen Welt, sich lösen aus falschen Abhängigkeiten oder unrealistischen Glücksvorstellungen. „Man muss wieder zu Sinnen kommen“, betont der Psychologe immer wieder. „Erde, Luft und Wasser müssen wir spüren können, um uns an die gelebte Zeit zu erinnern.“

Jorgos Canacakis: „Ich begleite dich durch deine Trauer“. Kreuz Verlag, Stuttgart 1990, 96 Seiten, 19,90 MarkMARIANNE MÖSLE, 40, Autorin in Tübingen, schreibt Portraits und Sozialreportagen