Dunkel, traurig, schön

Gegen Herbstdepressionen empfahlen die Römer den Genuss von Wein, Newagejünger schwören heute auf den reinigenden und belebenden Effekt von Ohrenkerzen. Zu gefährlich, sagen Sie? Zu albern? Wie wär’s dann einmal mit Hingabe an die Melancholie?

von REINHARD KRAUSE

Fast möchte man meinen, alles hinge an dieser einen Stunde Sommerzeit. Ende Oktober wird man regelrecht darauf gestoßen: Es ist ja tiefster Herbst! So plötzlich! Bleierne Dunkelheit schon nachmittags um fünf. Da sind sie, die vier düsteren Monate des Jahres. Die Durststrecke.

Nicht nur Wecker, Wand- und Armbanduhren werden beim Abschied von der Sommerzeit um eine Stunde zurückgedreht, auch die innere Uhr muss eine Umstellung verkraften. „Wird Herbst da draußen“, stöhnte Hildegard Knef schon zu Zeiten, als es die Sommerzeit noch gar nicht gab, um gleich anschließend zu murren: „Auch in mir.“ Keine Frage, der Wechsel zur dunklen Jahreszeit verlangt dem Menschen einiges ab. Das Schlafbedürfnis nimmt zu – wie auch das Verlangen, sich hemmungslos mit Süßigkeiten vollzustopfen. Die Haut wird schlaff und schuppig, und die Laune ist immer mal wieder im Keller. Was tun?

Jahreszeitliche Stimmungstrübungen kannte schon der antike Mensch. Claudius Galenus (129 bis 199 nach Christus), Leibarzt des römischen Kaisers Marc Aurel, fasste in seiner großen Humoralpathologie das medizinische Wissen seiner Zeit zusammen und kam zu der Schlussfolgerung: Dass der Mensch sich gelegentlich in Trübsal und Melancholie ergeht, ist einzig und allein dem Einfluss der schwarzen Galle zuzuschreiben. Bis ins tiefste Mittelalter, ja bis in die beginnende Neuzeit hinein hielt sich die so genannte Säftelehre als umfassendes medizinisches Erkärungsmuster.

Nicht nur die Gesundheit, auch die Grundstimmung des Menschen war diesem Ansatz zufolge abhängig von der Zusammensetzung der Körpersäfte – als da wären das Blut, der Schleim, die gelbe und die schwarze Galle. Je nach Übergewicht eines dieser Säfte sprach man vom sanguinischen, phlegmatischen, cholerischen oder vom melancholischen Typus.

Auch die Jahreszeiten spielten in diesem Konzept eine große Rolle. Im kalten, feuchten Winter, so die damals gültige und auch heute nicht überraschende Auffasssung, bildet sich im Körper des Menschen schädlicher Schleim. Der Betroffene wird müde, antriebslahm. Der warme und feuchte Frühling befördert hingegen die Blutbildung. Um jedoch ein – ebenfalls krank machendes – Übermaß an Blut zu vermeiden, wurden Menschen mit solch „sanguinischen“ Tendenzen zur Ader gelassen.

Ausgewogenheit galt als oberstes Gebot. Im trockenen, heißen Sommer widerum, hieß es, wachse die Gefahr, dass der Mensch austrocknet und durch eine Überproduktion an gelber Galle zum Choleriker mutiert. Und der kalte, aber trockene Herbst zu guter Letzt ließ zu viel schwarze Galle – und schwarze Gedanken – entstehen. Zur Vorbeugung wie zur Remedur wurde empfohlen, alten Wein zu trinken, Trauben oder das Fleisch von Jungtieren zu essen.

Heute lachen wir über die Säftelehre. Und beim bloßen Gedanken, wir sollten zur Ader gelassen werden, stellen sich unsere Nackenhaare auf. Sind Sie ein wirbeliger Sanguiniker? Ist doch dufte! Kommen Sie bloß nicht runter von diesem Trip, bleiben Sie agil und fit und allzeit übersprudelnd. Der Arbeitsmarkt verlangt’s doch sogar. Oder sind Sie Melancholiker? Oha! Dagegen kann man nicht nur, dagegen muss man ankämpfen. Sagen der Zeitgeist, die Apothekenrundschau und auch die Jungerwachsenenzeitschrift Max. In ihrem Novemberheft listete die Illustrierte „Sechzig Tipps gegen den Novemberblues“ auf, die nach dem ganz und gar untypisch sonnigen November 2000 wohl erst jetzt, in der beginnenden Adventszeit, ihre Tauglichkeit unter Beweis stellen müssen.

Bei der Lektüre stellt sich jedoch mehr als einmal die Frage, ob das unaufgeklärte Mittelalter und die Säftelehre wirklich längst der Vergangenheit angehören. Unter Punkt acht etwa wird empfohlen: „Wie wär’s mit einer Ohrkerzenbehandlung?“ Ja, Sie lesen richtig. „Mit einer brennenden Kerze im Ohr“, heißt es etwas vage, „sollen Sie sich gleich besser fühlen. Angeblich entsteht dabei ein Kamineffekt, der den Druck in den Nebenhöhlen reguliert, die Durchblutung anregt und den Lymphfluss stimuliert.“ Kamineffekt? Lymphfluss? Bei aller Liebe: Don’t try this at home! Dann schon lieber Tipp 32: „Essen Sie mit den Fingern.“ Aber wieso eigentlich? „Das tun die Menschen in Bangladesch auch, und die sind erwiesenermaßen das glücklichste Volk der Erde.“ Wer’s glaubt ...!

Auch Tipp 56 verheißt eher Linderung bei chronisch niedrigem Blutdruck als beim Novemberblues: „Schreien Sie, toben Sie, beißen Sie! Bis das Blut in den Adern pocht und Sie wieder spüren, dass Sie leben.“ Wer es dann doch lieber etwas weniger handfest und dafür etwas wissenschaftlicher mag, der kann sich seit nunmehr dreizehn Jahren auf ein weit überzeugenderes Modell berufen. Seit 1987 nämlich gilt der medizinische Beweis als erbracht, dass jahreszeitlich bedingte Verstimmungen – man spricht auch von Winterdepression oder saisonal abhängiger Depression (SAD) – vor allem vom Licht gesteuert werden. Verwunderlich: Erst in den Achtzigerjahren wurde erforscht, dass 28 Prozent der Einwohner Alaskas zu solchen Symptomen eines herbstwinterlichen Stimmungseinbruchs neigen, aber nur vier Prozent der Bewohner Floridas.

Anders als Patienten mit manifesten, nicht an Jahreszeiten gebundenen Depressionen neigen SAD-Patienten nicht zu Appetitlosigkeit und Gewichtsabnahme, sondern im Gegenteil zu Heißhunger auf Kohlenhydrate und Gewichtszunahme. Tagesschläfrigkeit und soziale Rückzugstendenzen ergänzen das Krankheitsbild. Als Erfolg versprechend hat sich die Lichttherapie erwiesen. Durch die Bestrahlung mit hohen Lichtdosen – es werden ein bis zwei Wochen lang jeweils morgens für eine halbe Stunde bis zu zehntausend Lux verabreicht – verringert sich über den Tag die Ausschüttung von Melantonin, die Patienten werden wacher und leistungsfähiger.

Der wichtigste Vorteil gegenüber einer pharmakologischen Behandlung: Bei der Lichttherapie konnten bislang keine Nebenwirkungen festgestellt werden. Wer sich jedoch durch Flutlichtgaben zu sommerlicher Höchstform verhelfen lassen will und auf die Unterstützung seiner Krankenkasse zählt, dürfte in der Regel enttäuscht werden: Für die Indikation einer Lichttherapie schreiben die Krankenkassen die Diagnose SAD vor. Und dazu reicht es nicht, sich gelegentlich schlapp und traurig zu fühlen.

Doch kommen wir ein letztes Mal zurück auf die Antitrübsinnsliste von Max. „Verbannen Sie“, heißt es dort als Tipp Nummer 24, „folgende CDs bis zum Frühjahr in den Keller: The Cure, Portishead, Morrissey, P. J. Harvey.“ Ganz falsch! Wenn wieder einmal eine melancholische Stimmung Sie beschleicht, überlegen Sie doch einmal, welche garantiert todtraurige Platte Sie besitzen. Und genau die legen Sie nun auf.

Wie wär’s mit einem Lied der Ex-Velvet-Underground-Sängerin Nico? Welches ist fast egal. Besonders geeignet ist jedoch „Mütterlein“ von der LP „Desertshore“. Mit dem zerdehnten Pathos eines reformatorischen Kirchenliedes singt sie da: „Liebes kleines Mü-hü-tter-lein, / nun darf ich endlich ba-hei dir sein. / Die Sehnsucht und die Ein-samkeit / erlösen sich i-hin Seligkeit.“

Wichtig ist nur, dass Sie sich Zeit für die Musik und Ihre düstere Stimmung nehmen. Nur keine Eile! Wer traurig ist und sich die „Kindertotenlieder“ von Gustav Mahler auflegt und dabei den Abwasch der ganzen Woche macht, darf sich nicht wundern, wenn er hinterher wirklich verstimmt ist. Wer sich aber eine homöopathische Dosis melancholy moods gönnt, wird womöglich durch neue Ausgeglichenheit und innere Ruhe belohnt.

Die Werbestrategen der bereits erwähnten Nico haben diesen Wirkzusammenhang schon vor vielen Jahren entdeckt. Als 1974 das vierte Soloalbum der deutschen Sängerin erschien – programmtischer Titel: „The End . . .“ –, warb ihre Plattenfirma mit dem Satz: „Warum Selbstmord begehen,wenn Sie diese Platte kaufen können?“

Wer nun meint, dies Starren auf die Schattenseiten der menschlichen Existenz sei ein typisches Zerfallsprodukt dekadenter Überflussgesellschaften, der sollte getrost einen Blick ins strenge und gottgefällige Barock werfen. Den Barockmenschen verlangte es geradezu nach so genannten Vanitasdarstellungen: Bilder von Totenschädeln oder welkenden Blumen erinnerten ihn an die Eitelkeit der Welt. Sterben? Pah. Eine Freude, denn dem Gottgefälligen winkte das Paradies, war nur erst das irdische Jammertal durchschritten.

Johann Sebastian Bach etwa fasste immer wieder gerne die frohe Todeserwartung seiner Epoche in erhebende Töne. In der mittleren Arie seiner Kantate „Ich habe genug“ aus dem Jahr 1727 heißt es: „Schlummert ein, ihr matten Augen, / fallet sanft und selig zu! / Welt, ich bleibe nicht mehr hier, / hab ich doch kein Teil an dir, / das der Seele könnte taugen. / Hier muss ich das Elend bauen, / aber dort, dort werd ich schauen / süßen Frieden, stille Ruh.“ Entsprechend rigoros wird in der geradezu beschwingt tänzerischen Schlussarie gut halbdutzendmal gejubelt: „Ich freu-heu-heu-heu-heue mich auf meinen Tod.“ Und das alles war gedacht für den evangelisch-lutherischen Gottesdienst, genauer für das Fest von „Mariä Reinigung“ am 2. Februar, also gegen Ende der winterlichen Düsternis.

Reinigende Wirkung kann die musikalische Konfrontation mit Melancholie und Traurigkeit auch in unseren gottfernen Tagen noch entfalten. Nicht nur bündeln melancholische Melodien diffuse dunkle Stimmungslagen, durch die musikalische Struktur, die Harmonie lassen sich womöglich auch schneller tröstende Wege aus der Krise finden. Now my heart is full sang Morrissey im Refrain einer seiner traurigen Bestandsaufnahmen. Melancholie ist auch eine Form der Selbstvergewisserung. Ich leide, also bin ich.

Natürlich vermag nicht jeder den Blick in die düstereren Bezirke seiner Seele in positive Energie umzumünzen. Was dem einen gut tut, mag den anderen langweilen und einen dritten womöglich grundlegend verstören. Doch auch in letzterem Fall kann ausgelebte Melancholie geradezu therapeutischen Nutzwert haben. Vor allem Männer könnten von einer solchen Sensibilisierung für versteckte Kümmernisse profitieren.

Ging die Wissenschaft bis vor kurzem davon aus, dass doppelt so viele Frauen zu Depressionen neigen wie Männer, korrigierten neuere Forschungen diese Einschätzung. Männer, so hat es den Anschein, verdrängen weit stärker als Frauen ihre depressiven Neigungen. Mit bisweilen tödlichen Folgen. Ein Blick in eine andere Statistik untermauert diese Vermutung: Zwei Drittel aller erfolgreichen Suizidversuche werden von Männern verübt.

So hilfreich es sein mag, sich – ob per Schreikur, Ohrenkerze oder Fingerfood – darauf zu konditionieren, allzeit auf dem Pfad einer aktiven und positiv gestimmten Lebensweise zu wandeln, so empfehlenswert ist es, sich auch in den Katakomben seines Gefühlshaushalts zurechtzufinden. Auch dort ist Musik ein treuer und oft verlässlicher Begleiter. Wie warb Anfang der Achtzigerjahre das kleine britische Label „Compact Organization“: Take good care of your records and your records will take good care of you.

Allerdings sollte sich auch der bekennende Melancholiker stets einen Ausstieg aus seinen schaurigschönen Stimmungen offenhalten. Außer in Fällen akuten Liebeskummers dürfte eine gelegentliche Stunde musikalischen Melancholiegenusses ausreichend sein. Danach empfiehlt sich eine aufmöbelnde Melodie. Verbleibt nämlich der Melancholiker in seinem Zustand niedergedrückter Düsternis, könnte er eines Tages womöglich wirklich zu einem Kandidaten für eine pharmakologische Behandlung werden.

Ein schönes, aber auch warnendes Beispiel für solch ausufernde Todessehnsucht beschließt übrigens Nicos düsteres Album „The End . . .“ Begleitet von ihrem pfeifenden und klappernden Harmonium, singt sie dort Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“. Und zwar – Skandal, Skandal! – die ersten drei Strophen: „Doitschland, Doitschland über a-ha-llös“. Während sich in die verbotenen ersten beiden Strophen zunehmend irritierende elektronische Störgeräusche mischen – was die dunkelromantische Süße der Melodie nur desto deutlicher zur Geltung bringt –, steigert sich die lauernde beklemmende Wirkung des Liedes in der abschließenden dritten Strophe „Einigkeit und Recht und Freiheit“ durch eine kaum wahrnehmbare Verlangsamung.

Die Selbstberauschung am Romantizismus kann auch ins Monströse driften. Und dann entsteht: The Horror!

REINHARD KAUSE, 39, taz.mag-Redakteur, meidet – nicht nur im Winter – Techno: „Viel zu energetisch...“