Fit for Traurigkeit

Lasset uns Menschen und Deprimismus machen: Frank Castorf inszeniert Michel Houellebecqs Roman „Elementarteilchen“ an der Volksbühne

von CHRISTIANE KÜHL

Kürzlich erschien Michel Houellebecq schon einmal nicht in der Volksbühne. Das war vor vier Wochen, als man den französischen Misanthropen und Dichter eingeladen hatte, mit einem Medienwissenschaftler und zwei Naturwissenschaftlern den Neuen Menschen zu diskutieren und anschließend ein paar seiner durchweg deprimierenden Gedichte zu singen. Houellebecq war irgendwo auf der Autobahn zwischen München und Berlin hängengeblieben, wie seine Frau über Handy mitteilte. Dem Dramaturgen Carl Hegemann gab das Zeit für ein paar aufschlussreiche Ausführungen zur Dialektik der Depression: „Wenn man sich ganz viel mit der Depression beschäftigt, dann schlägt sie manchmal ins Gegenteil um, nämlich in Lustigkeit und Unbeschwertheit.“

Michel Houellebecq hat man am Rosa-Luxemburg-Platz ebenfalls als Dialektik-Phänomen entlarvt. „Houellebecq, der Popstar, ist ein Sieger. Seine Marktkritik ist vom Markt angenommen worden“, analysiert das aktuelle Monatsprogramm: „So verwandelt sich der ‚neue Deprimismus‘ in eine grandiose Erfolgsstory.“ Ein wenig peinlich ist es den Ostberlinern schon, die nun auf die Bühne zu bringen. „Clever sein, den Markt bedienen – ist ja furchtbar“, schämte sich Frank Castorf in Focus. Wahrhaftig unnötig. Niemand bezichtigt die Volksbühne wegen der Uraufführung von „Elementarteilchen“ marktstrategischer Mode. Nicht nur, weil schließlich die ganze Spielzeit unter dem Motto „Lasset uns Menschen machen“ steht und schon die vergangene, „Ohne Glauben leben“, in die gleiche Richtung wies. Sondern vor allem, weil die Kombination Castorf/Houellebecq nach der perfekten Kombination klang. Das Depressions-Dreamteam.

Houellebecqs „Elementarteilchen“, wie schon sein erster Roman „Ausweitung der Kampfzone“, ist eine radikale Kapitalismuskritik. Seine wichtigste These ist die der Zwangssubsumierung aller menschlichen Beziehungen unter die Ökonomie. Liebe existiert ausschießlich als Ware, an der jedoch nur Menschen mit entsprechendem Tauschwert teilhaben. Die anderen gehen leer aus, und dies Proletariat wächst. Was gemeinhin Freiheit genannt wird, ist nichts als der Siegeszug des Individualismus, der alle Gemeinschaft zerstört.

All diese Themen sind Castorf nicht fremd, im Gegenteil; als Regisseur und Intendant beschäftigt er sich schon lange mit der Wirkung des entfesselten Kapitalismus auf die Moral der Gesellschaft. Auch ein gewisser Zynismus scheint die zwei Herren in den Vierzigern zu verbinden, dazu eine Vorliebe für Thesen: Houellebecq stellt gerne welche auf, Castorf lässt gerne welche wahlweise herausschreien oder zerpflücken. So viele Ansatzflächen, so viele Reibungspunkte – und trotzdem war die mit Spannung erwartete Uraufführung des vielbeschworenen Romans des ausgehenden 20. Jahrhunderts durch einen der interessantesten Regisseure dieser Zeit ein Flop.

Bert Neumann hat eine ockerfarbene Bühne gebaut, die zwischen Sechzigerjahre-Wohnlandschaft, Fitnessraum und Gummizelle angesiedelt ist. Ein Solarium steht da und ein Gerät für Krafttraining, alles andere ist weich und federnd. Riesige Sitzsäcke, in die die Schauspieler gern mit einem Sprung plumpsen, eine Kletterwand, Gymnastikbälle. In diesem Wohlfühlraum wird die Geschichte zweier ungleicher Brüder erzählt, die beide gleichsam tragisch enden. Zwei Vertreter des ausgepowerten Mittelstands der westlichen Hemisphäre am Ende des 20. Jahrhunderts, was bei Houellebecq als letzte Phase des christlichen Mittelalters zu lesen ist. Sein Roman erzählt aus Zukunftsperspektive relativ chronologisch die Geschichte von Bruno – hyperfrustrierter Sexmaniac – und Michel – kontaktunfähiger Molekularbiologe, der der Menschheit nicht nur die geschlechtslose Fortpflanzung beschert, sondern sie durch eine neue, geschlechtslose Spezies ersetzt – sowie ihrer Mutter, eine 68er-Schlampe, der und deren Generation durch die Auflösung aller Werte die Schuld für alles Unglück zukommt.

Rainald Goetz hatte für die geplante Uraufführung unter Karin Henkel eine Bühnenfassung erstellt, doch als Castorf die Produktion übernahm, erarbeitete er mit Carl Hegemann eine eigene Version. Sie gibt Chronologie und, abgesehen vom Brüderpaar, wiedererkennbare Figuren, auf: Die Schauspieler tragen Nummern. Doch was theoretisch einleuchtet – nicht Einzelschicksale, die ganze uniformierte Generation ist verloren – wirkt über vier Stunden Aufführung unfokussiert und ohne Bogen.

Martin Wuttke (Michel) und Herbert Fritsch (Bruno) geben ein Clownspaar. Sie treten sich auf die Füße, stottern, stolpern und hüpfen Schwanensee. Sie sind gehemmt und hysterisch, bisweilen aggressiv, meistens lächerlich. Tragisch nicht. Ihr Leben ist eine missglückte Nummernrevue; das bei Houellebecq so frappierende Scheitern als Determination alles Humanen findet sich nicht. Sir Henry, der das Geschehen mit schwer erträglichem Heimorgel-Geschnulze begleitet, spielt immer wieder Bowies „Heroes“ ein – aber Held kann in den „Elementarteilchen“ niemand mehr sein, auch nichtfür einen Tag. Potenzial dafür haben im Roman allein einige wenige Frauen, die trotz allem der Liebe fähig sind. Auf der Bühne bleiben sie alle BH und Schlüpfer tragende Hupfdohlen.

Zynismus ist hier ein Spaß. Der grenzenlose Fatalismus, der den Roman so nachhaltig schockierend macht – seine Überwindung kann allein dem Genomprojekt der „vollständigen Replikation“ gelingen – überträgt sich nicht. Eine große Traurigkeit findet nicht statt. Castorf, ein Genie im Aufdecken des Leerlaufs in der Hyperaktivität, gelingt eines nicht: die Leere im Leeren zu zeigen. Da siegt in der Volksbühne wohl zwangsläufig die Dialektik, und die von Hegemann benannte Lustigkeit will ihr Recht. Der Roman sieht die Erfreulichkeiten an ganz anderer Stelle. Glück ist das Äquivalent zu Koma.

„Elementarteilchen“ nach Michel Houellebecq. Regie: Frank Castorf. Mit: Herbert Fritsch, Martin Wuttke u. a. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz