Vom Sprechen und Schweigen der Töne

Das Festival „Winter Music“ spielte das nordamerikanische Experiment gegen die europäisch-akademische Musiktradition aus. Schweigen contra musikalische Diskursivität – ein Patt mit leichten Vorteilen für die Alte Welt

Wenn Musik nicht redet, dann holt sie Luft. Sie atmet, räuspert sich oder sie befeuchtet sich die Lippen. Dass es sich lohnen kann, einer schweigenden Musik zuzuhören, das erkannte man in den USA der Fünfzigerjahre. Komponisten wie John Cage und Morton Feldman ließen vom entwickelten Sprechwerkzeug der Musik ab, um die Töne stattdessen um ihrer selbst willen erklingen zu lassen.

Nordamerikanische Komponisten pflegen den Verzicht auf musikalische Beredtheit noch heute mit Enthusiasmus und Leidenschaft. Schon durch Alvin Luciers Orchesterstück „Sweepers“ wehte am Freitagabend beim Festival „Winter Music“ ein organisches Grundrauschen. Hier hob und senkte sich der Atem einer amorphen Klangmasse in lang gezogenen Glissando-Ketten der Streicher, von unmerklich einsetzenden Bläserakkorden flankiert.

Entschlossener noch gibt Phil Niblock den Sprachcharakter von Musik preis. Sein Stück „Disseminate“ beginnt mit einem einzigen Ton, der sich nach und nach in Sechsteltonschritten zu einem rauhen Klang auffächert. Der hörende Nachvollzug richtet sich dabei zwangsläufig auf die akustischen Eigenschaften dieses Klangs, auf den Puls der schwebenden Dissonanzen und auf das Obertonspektrum, das vom Orchester seziert, bloßgelegt und ausgestellt wird.

Allein, eine befriedigende Rezeptionshaltung hat für solche Musik noch niemand gefunden. Musik, die sich der Diskursivität verweigert, die das Gespräch und den Dialog nicht sucht, lässt sich eben auch – überspitzt formuliert – als ein von menschlicher Aktivität losgelöstes, ein Eigenleben führendes Phänomen begreifen. Es wirkte deshalb zunächst durchaus befreiend, als man sich im zweiten Konzert der „Winter Music“, das vom Berliner Kammerensemble Neue Musik an diesem Wochenende in der Akademie der Künste ausgetragen wurde, in musikalischer Eloquenz übte. In Triostücken für tiefe Streicher – allesamt aus der Feder arrivierter deutscher Komponisten – wurde das musikalische Florett mit tänzerischer Leichtigkeit und kernigen Wendungen geführt.

Sofern man immerhin eingesehen hatte, dass Musik nicht dadurch zu sich selbst kommt, dass sie in einem fort redet, entdeckte man in diesen Streichtrios auch eine Haltung, die beredte Gelehrsamkeit mit einiger Selbstverständlichkeit zur Schau stellt. Das Konzept des Festivals, der europäisch-akademischen Tradition das nordamerikanische Experiment vorzuhalten, das dem Programm im Vorfeld eher Holterdipolter aufgestülpt worden zu sein schien, war also durchaus aufgegangen.

Das gilt umso mehr, als die Uraufführungen von zwei Werken jüngerer europäischer Komponisten diesen Gegensatz auflösten. Sven-Ingo Koch ließ die Musik in seinem Ensemblestück „Buchtungen“ am eigenen Entstehen teilhaben. Grobe, ungeschliffene Geräuschklänge, getrübte Bläserakkorde und eine schreckhaft aufspielende E-Gitarre erinnerten an die körnige Präsenz introvertierter Freejazz-Sitzungen. Pierluigi Billone hingegen verlor sich mit seinem großartigen Stück für Kontrabass-Solo in vorsprachlichem Stammeln von archaischer, vorgesanglicher Qualität.

Man hatte seinen Frieden mit dem Festival also längst gemacht, man hatte These von Antithese geschieden und einen Ansatz zur Synthese erkannt, als sich das Ensemble am späten Samstagabend ein letztes Mal für Friedrich Schenkers „Missa Nigra“ zusammenfand – als Überlebende eines Atomkrieges dem Massengrab entstiegen.

In dieser schwarzen Messe wirkte die friedensbewegte Plakativität der Achtzigerjahre, vor deren Hintergrund das Stück entstand, nie antiquiert, sondern, im Gegenteil, jederzeit scharf und zynisch. Und man wurde schließlich daran erinnert, dass Musik nur dann Teil einer politischen Kultur ist, wenn sie sich diskursiven und dialogischen Zwängen beugt.

BJÖRN GOTTSTEIN