Tod durch Öffentlichkeit

Die Umstände, unter denen Joseph Abdulla im Freibad von Sebnitz umgekommen ist, werden nicht mehr geklärt werden. Außer der Mutter können damit alle gut leben

Seit sich die Politik des Todes von Joseph bemächtigt hat, ist der Fall ein Politikum und damit juristisch tot

Politik und veröffentlichte Meinung haben ihr Urteil gesprochen. Renate Kantelberg-Abdulla ist eine verwirrte, tragische Lügnerin. Ihre Zeugen hat sie bestochen und die Stadt Sebnitz besudelt. Um ihre eigenen Schuldgefühle und die ihrer Tochter zu verdrängen, hat sie sich verzweifelt in die Tätersuche geflüchtet. In einem Nebensatz wird vielleicht erwähnt, dass nichts sicher ist, dass leider niemand weiß, wie Joseph Abdulla im Sommer vor drei Jahren im Freibad von Sebnitz zu Tode gekommen ist. Dennoch stempeln dieselben Journalisten, die tagelang distanzlos an Renate Kantelberg-Abdullas Lippen klebten, sie nun zur Täterin.

Drei Tage lang schrie vor allem die Boulevard-Journaille „Mord! Mord! Mord!“, um Renate Kantelberg-Abdulla anschließend mit einem kräftigen „Spinnerin“ öffentlich zu enthaupten. Derselbe sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, der sich zunächst erschüttert zeigte, spricht nun fast frei jeden Zweifels von einem Unfall. Und die Einwohner der Stadt Sebnitz, die der sächsische Verfassungsschutz eine braune Hochburg nennt, waschen sich kollektiv rein. Dabei kann derzeit niemand die entscheidende Frage beantworten: Wie ist Joseph Abdulla unter Wasser geraten? Ist er gefallen, gestoßen oder geworfen worden? Wurde er ertränkt, oder ist er ertrunken? War es ein tragischer Unfall, eine Folge unglücklicher Umstände oder ein rassistischer Mord?

Ziemlich viel spricht dafür, dass die Dinge nicht so waren, wie Renate Kantelberg-Abdulla und Bild vor zehn Tagen der Öffentlichkeit weismachen wollten. Aber kann eine einzige Frau dreißig Zeugen manipulieren? Stellen wir uns einen kurzen Moment vor, die Mutter von Joseph hätte mit ihren Vorwürfen Recht. Nicht in allen Einzelheiten, vielleicht hat sie sich in eine bestimmte Version der Ereignisse hineingesteigert. Aber stellen wir uns vor, Joseph Abdulla sei nicht in das Schwimmbecken gefallen und ertrunken. Stellen wir uns vor, er sei nicht von 50, aber von einigen wenigen rechten Jugendlichen gequält und ins Wasser gestoßen worden. Und stellen wir uns vor, dass nicht 300 Menschen zugeschaut, sondern ein paar Freibadbesucher etwas gesehen oder gehört, aber anschließend geschwiegen hätten.

Wer außer der Mutter hätte nach zehn Tagen hysterischer Skandalisierung, politischer Schuldzuweisungen und medialer Selbstzerknirschung noch ein Interesse daran, dies zu erfahren? Die Sebnitzer nicht, die sächsische Justiz nicht, die Politik nicht und auch nicht die Medien. Innerhalb einer Woche ist der Fall Joseph Abdulla zu einem Spielball unterschiedlichster Interessen geworden. Es geht nicht mehr um die Wahrheit, sondern um Gesichtswahrung. Nicht mehr um Gewissheit, sondern um Überzeugungen. Der Fall Joseph Abdulla wurde zur Projektionsfläche für alle Vorurteile über den rassistischen Osten und zum Alptraum der Ostdeutschen, denen einmal mehr jede Scheußlichkeit zugetraut wurde. Er ist zum politischen Zankapfel zwischen CDU und SPD verkommen – und zu einer peinlichen Justizposse.

Schon jetzt ist der Ermittlungszeitraum ungewöhnlich lang. Zunächst wurde einseitig und oberflächlich ermittelt. Mögliche Zeugen wurden nicht befragt, die Obduktion schlampig durchgeführt. Schließlich war es nicht Bild, die den Startschuss im Fall Joseph Abdulla gab. Noch vor der ersten Medienveröffentlichung wurden drei Personen unter dringendem Tatverdacht festgenommen. Dieselben Zeugen aber, deren Aussagen nach der ersten richterlichen Befragung einen Haftbefehl begründeten, stellt die Staatsanwaltschaft jetzt als gekaufte Lügner hin. Haben die Richter bei den ersten Vernehmungen nicht intensiv genug nachgefragt? Oder wäre es denkbar, dass die Zeugen erst jetzt lügen, weil sie durch den Zorn der Nachbarschaft, durch Neonazi-Drohungen und den Druck einer polarisierten Öffentlichkeit eingeschüchtert wurden?

Spätestens seit sich die Politik des Todes von Joseph bemächtigt hat, seit Kurt Biedenkopf gegen den designierten niedersächsischen Justizminister Christian Pfeiffer (SPD) polemisiert, seit sich der Bundeskanzler und SPD-Vorsitzende Gerhard Schröder gegen die Kritik des CSU-Generalsekretärs Goppel wehren muss, ist der Fall ein Politikum und damit juristisch tot. Aus Sorge um den Ruf Sachsens und seiner Justiz hat sich vor allem der Ministerpräsident in unzulässiger Weise in die Ermittlungen eingemischt. Es gebe für alles „wahrscheinlich eine ganz einfache Erklärung“, erklärte Biedenkopf quasi ex cathedra die Sicht des Landes, um sich dann in Andeutungen zu flüchten. Ohne einen einzigen Beweis vorzulegen, verkündete er, die neonazistischen Störer, die vor dem Haus der Familie Kantelberg-Abdulla aufmarschiert waren, seien von Journalisten angestiftet worden.

Auch Sachsens Justizminister Manfred Kolbe glaubt an einen Badeunfall und erörtert die Möglichkeiten einer Schadenersatzklage in Millionenhöhe – gegen den Springer-Verlag. Die Botschaft ist klar: Jeder, der jetzt noch über einen rechten Mord spekuliert und sich so auf die Seite der Mutter schlägt, könnte sich schon bald lächerlich machen oder gar regresspflichtig werden. So macht man Kritiker mundtot und nimmt Ermittlungsergebnisse vorweg. Nach dieser politischen Intervention in die laufenden Ermittlungen ist die sächsische Justiz nicht mehr unabhängig. Jedes andere Ermittlungsergebnis als ein Badeunfall würde nicht nur einen Justizskandal auslösen, sondern auch eine Freistaatskrise.

Im Fall Joseph Abdulla geht es nicht mehr um die Wahrheit, sondern um Gesichtswahrung und Überzeugungen

Wie bequem ist es da für die Justiz, die Politik, die Sebnitzer und die Medien, sich dahingehend rauszureden, dass dreieinhalb Jahre nach dem Fall Joseph Abdulla die Umstände seines Todes und mögliches Fremdverschulden nicht mehr zweifelsfrei geklärt werden können. Wie bequem ist es, die Mutter für unzurechnungsfähig zu erklären und alle Zeugen – noch immer gibt es einige, die auf der Mordversion beharren – per se als unglaubwürdig hinzustellen. Schließlich könnten sie ja nicht mehr unterscheiden, was sie tatsächlich gesehen, was ihnen von Renate Kantelberg-Abdulla eingeredet wurde und was sie in den letzten Tagen in den Medien aufgeschnappt haben. Todesursache hysterisierte Gesellschaft sozusagen. Außer der sozial und politisch isolierten Mutter können damit alle gut leben.

Schon behaupten CDU-Politiker, in Sebnitz hätte sich gezeigt, dass die SPD ein instrumentelles Verhältnis zum Thema rechte Gewalt habe. Der Fall Joseph Abdulla spaltet die parteiübergreifende Koalition gegen rechts – und die Ostdeutschen sehen sich einmal mehr darin bestätigt, dass der braune Osten nichts als ein Medienkonstrukt ist. Für die Bekämpfung des Rechtsextremismus wäre ein solches Ende fatal. Die vermeintlich gut meinende Skandalisierung hätte genau das Gegenteil erreicht.CHRISTOPH SEILS