Vom Staatstheater zurück auf die Provinzbühne

Der juristische Kampf um den Einzug in das Weiße Haus geht an vielen Fronten weiter. Floridas Landtag will diese Woche die Wahlmänner benennen

Die Verfassungsväter misstrauten einer unaufgeklärten Mehrheit

WASHINGTON taz ■ Die Schlacht ums Weiße Haus hat sich am Wochenende aus der dünnen Höhenluft juristischer Abstraktionen in Washingtons pompösen Supreme Court in ein nicht halb so grandioses Ambiente nach Tallahassee in Florida verlagert. Hatten am Freitag Rechtsgelehrte auf großer Bühne von roten Samtvorhängen umrahmt sehr gelehrt über Verfassungsrecht gestritten, ging es am Samstag und Sonntag in einem fensterlosen Gerichtsgebäude in Florida um Wahlmaschinen, Lochkarten, Papierschnipsel und Statistik.

Derweil das Rennen noch offen ist, sind einige Entscheidungen gefallen. Der Supreme Court Floridas hat entschieden, dass der berühmt-berüchtigte Schmetterlingswahlzettel in Palm Beach zwar den Wähler verwirrt haben mag, nicht aber verfassungswidrig ist. Also keine Neuwahl in Palm Beach. Eine Schlappe für Gore. Auch das Oberste Bundesgericht in Washington dürfte inzwischen seine Entscheidung getroffen haben, feilt aber an deren Begründung.

Die Action ist zur Zeit in einem Gericht in Tallahassee, in dem der Anwalt David Boies die Sache Gores vertritt. Er will erreichen, dass in den Landkreisen Palm Beach und Miami-Dade 14.000 von den Lochkartenzählmaschinen als nicht lesbar ausgeworfene Wahlzettel von Hand neu gezählt werden bzw. dass bei der Zählung großzügigere Standards als in Palm Beach angelegt werden. Es geht dabei vor allem um sog. undervotes, um Lochkarten, die im Unterschied zu den overvotes keine Wahl für das Amt des Präsidenten registrieren. Bei den overvotes wurde – oft aufgrund der verwirrenden Gestaltung des Wahlzettels – die Stimme für mehr als einen Präsidentschaftskandidaten abgegeben. Undervotes können durch fehlerhaftes Einlegen der Lochkarte in die Lochungsmatrix oder dadurch zustande kommen, dass der Wähler darauf verzichtete, eine Stimme für das höchste Staatsamt abzugeben.

All diese Rechtshändel könnten demnächst gegenstandslos werden, weil der Landtag Floridas beschlossen hat, sich diese Woch zu treffen und sein nach Artikel 2 der amerikanischen Verfassung verbrieftes Recht wahrzunehmen und Wahlmänner für die Wahl des Präsidenten am 18. Dezember zu benennen. Mit Floridas 25 „Electors“ hat Bush akkurat die benötigte Mehrheit von 271 Stimmen zu Gores 265. Ohne Floridas Stimmen aber hat Gore die Mehrheit.

Um besagten Artikel 2 der amerikanischen Verfassung ging es am Freitag in der knisternden Atmosphäre des Supreme Court in Washington, dessen Verhandlung als Mitschnitt – bisher einmalig in der Geschichte des Obersten Gerichts – unmittelbar nach Sitzungsschluss von mehreren Radiostationen übertragen wurde. Das Erste, was das erstaunte Publikum aus dem Gerichtssaal erfahren konnte, war, dass es in Amerika kein verfassungsrechtlich garantiertes Wahlrecht gibt. Bei der Verhandlung ging es um nichts Geringeres als die Frage, ob Floridas Verfassung, die ein Wahlrecht garantiert, über der Verfassung der USA steht, deren Artikel 2 die Wahl der sog. Wahlmänner den Landesparlamenten überlässt. Floridas oberstes Verfassungsgericht kann sich also schlecht auf Floridas Verfassung berufen, um das im Auftrag der Bundesverfassung vom Landtag Floridas festgelegte Procedere zur Bestimmung der Wahlmänner auszuhebeln. Wie in Deutschland geht in Amerika Bundesrecht und Bundesverfassung vor Landesrecht und auch vor der Landesverfassung.

Edward Eberle, ein amerikanischer Verfassungsrechtler mit tiefer Kenntnis des deutschen Verfassungsrechts, erklärt dies so: „In Amerika besteht zwischen Verfassungswirklichkeit und der alten Verfassungsmaschinerie ein Missverhältnis. Amerikas Verfassungsväter – vor allem Madison – hatten ein tiefes Misstrauen gegenüber den Launen und der möglichen Tyrannei einer unaufgeklärten Mehrheit. Dagegen haben sie in die Verfassung etliche Filter eingebaut, durch die der Volks- und Mehrheitswille laufen sollten. Dazu gehört auch das Wahlmännerkollegium“, erläutert Eberle. „Seit Annahme der Verfassung aber wurden die Sklaven befreit und haben Frauen und Schwarze Wahlrecht erlangt – Amerika wagte, um mit Willy Brandt zu sprechen – mehr Demokratie. Mit diesem Demokratisierungsschub haben die alten Institutionen nicht mitgehalten oder – besser gesagt: sie sind damit in Konflikt geraten, darum ging es bei der Verhandlung im Obersten Gericht.“ PETER TAUTFEST