Fluchtpunkt Fährhafen Calais

Wenn Flüchtlinge nach England wollen: Rauf auf den Laster, rauf auf die Fähre, ankommen. Wenn sie erwischt werden, büßt der Lkw-Fahrer mit

„Ich habe Klienten, die besitzen nur einen Lkw. Wenn er beschlagnahmt ist, verdienen sie nichts mehr. Da werden Existenzen ruiniert.“

aus Calais DANIELA WEINGÄRTNER

Im Bus halten alle den Atem an. Die Leselampen sind gelöscht, eine Stimmung wie auf dem Hochsitz in der Abenddämmerung. „Da, da, ich habe einen gesehen!“, ruft plötzlich ein älterer Abgeordneter aufgeregt und fasst seine Begleiterin am Ärmel. „Jetzt kommen sie raus.“

Der internationale Dachverband des Transportgewerbes hat Europaabgeordnete zum Ortstermin nach Calais eingeladen. Zwei Busstunden von Brüssel entfernt verläuft eine Zonengrenze mitten durch EU-Europa. Sie trennt Schengenland von Großbritannien.

Der sportliche Ehrgeiz ist geweckt. „Haben Sie’s bemerkt?“, raunt der Pressesprecher ins Busmikrofon. „Über dem Zaun dort hingen zwei Handtücher. Dahinter waren auch welche.“

Calais rüstet auf. Seit 1. April verlangt Großbritannien vom Fahrer 2.000 Pfund Bußgeld für jeden Flüchtling, der als blinder Passagier auf einem Frachtlaster britischen Boden erreicht. Die Industrie- und Handelskammer der Hafenstadt wird deshalb in diesem und dem kommenden Jahr 40 Millionen Franc investieren, um die Zufahrten zu den Fähren besser überwachen und ungebetene Fahrgäste noch auf französischem Boden aufspüren zu können.

Todesstreifenarchitektur: Flutlicht, Betonwüsten, Gitterzäune. Dennoch sind überall im Hafengelände Grüppchen dunkel gekleideter Menschen unterwegs, die Schengenland verlassen wollen. Sie haben Verwandte oder Freunde auf der anderen Kanalseite. Vielleicht glauben Sie auch den Erzählungen ihrer Schleuser, dass drüben keiner mehr nach Papieren fragen wird. Sie schlendern an der Fahrbahn entlang. Sie stehen auf den Verkehrsinseln. Sie warten auf einen Laster, der für ihre Zwecke geeignet ist.

Jeder Fahrer kann sich einer freiwilligen Inspektion unterziehen und erhält dann eine Bescheinigung, die er der britischen Einwanderungsbehörde vorweisen kann. Die Testmethode ist handgestrickt, aber wirkungsvoll: Mit einem CO2-Messgerät, das ursprünglich entwickelt wurde, um Schwelbrände frühzeitig zu erkennen, wird der Kohlendioxidgehalt im Laderaum eines Lkws gemessen. Übersteigt er den Durchschnittswert, kann gammliges Gemüse die Ursache sein – oder menschlicher Atem. Dann wird der Lastwagen geöffnet und durchsucht.

Demnächst sollen Videokameras installiert werden, die einen Blick von oben auf die Decke des Frachtraums ermöglichen. Dort sind die Kolosse am verletzlichsten. Man kann mit einem Messer ganz schnell ein Loch in die Plane schneiden. Decken aus Hartplastik knacken die Flüchtlinge mit einem kräftigen Sprung von oben. Wer unter einer Brücke durchfährt, sollte nicht trödeln.

„If you take an animal to the United Kingdom make sure you have the health-certificat to avoid quarantine“ warnt ein Hinweisschild in der Abfertigungshalle von Calais. Ein Tier, das ohne diese Bescheinigung eingeführt wird, muss drüben in Quarantäne. Ein Flüchtling, der es schafft, darf meist frei auf der Insel herumlaufen. Die Briten schieben selten ab. Der Fahrer oder seine Spedition aber muss zahlen, egal ob er fahrlässig handelte oder das Zertifikat aus dem Hafen von Calais vorweisen kann.

Wer sich weigert, dessen Laster wird beschlagnahmt. Bußgelder in Höhe von 7,3 Millionen Pfund (ca. 24,3 Millionen Mark) hat das Königreich seit 1. April verhängt. 400.000 Pfund sind bezahlt worden, für weite 620.000 wurden Sicherheiten von den Unternehmen hinterlegt, um die Laster frei zu bekommen. Lediglich 26 Bußgeldbescheide wurden aufgehoben, weil die Fahrer die Einwanderungsbehörde von ihrer Unschuld überzeugen konnten. Mehr als 80 Fahrer haben Einspruch eingelegt und warten nun auf ihr Gerichtsverfahren.

„Versenken Sie sich doch einen kleinen Augenblick in das Szenario“, empfiehlt David Harrison von der Immigrationsbehörde in Dover. Er ist an diesem Abend eigens über die Zonengrenze gekommen, um den empörten Transportunternehmern in Calais Rede und Antwort zu stehen. Ein strubbelhaariger Brite im Barber-Jacket. Sehr selbstbewusst würzt er seinen Standpunkt mit britischem Humor. „Der Laster wird auf französischer Seite inspiziert, durchsucht, verplombt. Keine menschliche Fracht. Und dann, wie durch Zauberhand, klettern drüben auf unserer Seite vier, fünf Leute aus dem Frachtraum. Halten Sie das für plausibel?“

Der Schweizer Transportunternehmer Bob Dons, der Harrison beim Abendessen gegenübersitzt, presst seine Hände flach auf die weiße Tischdecke. Er steht bei den britischen Behörden mit 14.000 Pfund in der Kreide. Einer seiner Subunternehmer sitzt auf der britischen Insel fest. Sein Laster, in dem er normalerweise auch wohnt, ist beschlagnahmt. Ein Kollege hat ihm seinen Wohnwagen geliehen. Die britische Fürsorge unterstützt ihn mit 50 Pfund die Woche.

„Meine Leute kennen das Risiko. Und sie holen sich bei jeder Überfahrt das Zertifikat. Während die Fähre auf dem Wasser ist, dürfen die Fahrer nicht nach unten aufs Parkdeck. Wann sollten sie also Gelegenheit haben, an der Ladung zu manipulieren, Schleusergeld zu nehmen, Illegale an Bord zu bringen?“

Der Subunternehmer von Dons-Transporte hatte bei der Landung in Dover Geräusche in seinem Frachtraum bemerkt. Er hatte die Fähre nicht verlassen wollen, war aber von der Einwanderungsbehörde dazu gezwungen worden. Sieben Flüchtlinge waren während der Überfahrt in seinen Laster geschlüpft. Die 14.000 Pfund Strafe kann er nicht zahlen. Wenn er den Laster nicht zurück bekommt, ist er arbeitslos.

Herr Harrison lächelt milde, doch seine Worte sind hart: „Die Geldbuße ist nichts als eine Mahnung an Fahrer und Spediteure, noch sorgfältiger bei den Sicherheitsstandards zu sein. Es geht ja nicht um ein Strafverfahren – das leiten wir nur ein, wenn wir glauben, dass vorsätzlich gehandelt wurde. Aber 2.000 Pfund Bußgeld sind doch eine lächerliche Summe im Vergleich zu dem, was jeder Flüchtling das Königreich kostet.“

Bob Dons kann über die lächerliche Summe nicht lachen. Sein britischer Anwalt Ian Rothera, der für mehrere Mandanten Beschwerde gegen das Bußgeld eingelegt hat, ebensowenig. Er sieht das menschliche Drama, das in den Gerichtsakten steckt: „Ich habe Klienten, die besitzen nur diesen einen Lkw. Wenn er beschlagnahmt ist, verdienen sie nichts mehr. Da werden Existenzen ruiniert.“ Rothera ist überzeugt, dass diese Fahrer Opfer und nicht Täter sind. Er habe in seiner Praxis nur einen Fall erlebt, wo Zeugen gesehen hatten, wie Geld übergeben wurde, bevor Flüchtlinge in einen Frachtlaster stiegen.

Die Verantwortlichen der Hafenverwaltung und die Spediteure glauben zu wissen, wie die Flüchtlinge es anstellen. Sie sind überzeugt, dass Fluchthelfer die illegalen Einwanderer in eigenen Lastern an Bord bringen. Unter Deck dann wird während der Überfahrt ein unfreiwilliger Wirt für die Landung in England gesucht. Wenn der Fluchthelferlaster die Fähre auf der anderen Kanalseite verlässt, ist er sauber.

Der Parlamentarierbus biegt auf einen schmuddeligen Parkstreifen ab, mitten in der Mondlandschaft. Die Tankstelle heißt AS 24, nur ein paar Zapfsäulen, zwei gelbliche Scheinwerfer, Bürocontainer. Die Veranstalter möchten die Safari mit einem authentischen Bericht vom Leben an der Zonengrenze abrunden. Der Pächter kommt an Bord.

„Das ist ein Krieg, was sich hier abspielt“, sagt er. „Die sind unglaublich gut organisiert. Werfen ein Seil über den Laster, drücken damit die Plane nach unten, dann lassen sich die Seitenverschlüsse leichter öffnen – und schon sind sie drin. Eine Sache von Minuten.“ Der Tankwart erzählt, dass die Fahrer keine Ruhe mehr finden. Während sie schlafen, werden ihre Wagen geentert. Schon eine Pinkelpause reicht: Schloss geknackt, Plombe aufgeknipst. Wenn alle drin sind, macht der Helfer mit Sekundenkleber die Plombe wieder zu. „Unglaublich gut organisiert sind die“ – er sagt es immer wieder.

Warum die Tankstelle nicht besser beleuchtet sei, will einer der Abgeordneten wissen. Der Tankwart schnaubt ins Mikrofon. „Die kommen doch auch am Tag. Die sind so wild entschlossen. Licht schreckt die nicht.“ Es sei gefährlich geworden am Hafen. Fahrer, die Flüchtlinge entdeckten, würden mit Steinen beworfen, sogar mit Messern bedroht.

Polizeioffizier Lavallée arbeitet in der 200 Mann starken Kompagnie der französischen Grenztruppe, die für Hafen und Kanaltunnel zuständig ist. Seinen Arbeitsalltag beschreibt er sarkastisch: „Wir nehmen sie mit auf die Wache. Wir fragen sie nach ihrer Nationalität. Sie sind immer Iraker. Oder Afghanen. Wir holen einen Dolmetscher. Wir unterhalten uns kurz mit ihnen. Dann lassen wir sie gehen.“ Denn in beiden Länder ist eine Abschiebung unmöglich. Die Flüchtlinge sind von ihren Helfern instruiert worden, wie sie sich bei einem Verhör verhalten sollen.

19.000 Menschen ohne Aufenthaltsberechtigung für die Schengen-Länder hat die französische Polizei in diesem Jahr an der Küste aufgegriffen. 20 Prozent verfügten über gültige Ausweispapiere und beantragten Asyl in Frankreich. 80 Prozent hatten keinerlei Identitätsnachweis bei sich. Sie wurden nach dem Verhör zur Hilfsstation des Roten Kreuzes gebracht. Die Statistik sagt, dass sie sich dort im Durchschnitt sechs Tage aufhielten, als der Hafen noch nicht gesichert und die englische Bußgeldverordnung noch nicht in Kraft war. Heute dauert es etwa vier Wochen, bis ihnen der Sprung über den Kanal gelingt.

„Letztes Jahr waren es mehr Familien“, erzählt der Tankstellenpächter. „Zum Teil ganz kleine Kinder dabei. Jetzt kommen vor allem junge Männer.“ Das mag daran liegen, dass es nur noch die Sportlichen schaffen. Harrison von der englischen Immigrationsbehörde untermauert diese Beobachtung mit Zahlen: Bis März wurden monatlich 1.480 illegale Einreisende in Großbritannien aufgegriffen. Seit die Fahrer das Bußgeld fürchten und in Calais scharf kontrolliert wird, pendelte sich die Zahl zwischen 800 und 900 pro Monat ein.

Der Mann von der Tankstelle wünscht den Eurokraten einen guten Heimweg. Sie schicken ihn mit warmem Applaus zurück an die Front. Er zögert kurz, greift noch einmal zum Busmikrofon: „Mir tun sie alle leid, die Fahrer, aber die Flüchtlinge auch. Da war ein Herr, der sprach gestochenes Englisch. Sah immer aus wie aus dem Ei gepellt. Wochenlang streifte er hier durchs Gelände. Eines Tages war er weg.“

Schwerfällig schwenkt der Bus auf den Zubringer zur Autobahn. Dankbar greifen die Reisenden zu Lachsbrötchen und belgischem Bier. Es ist so gemütlich hier drin. Und so gruselig dort draußen.