„Sozialagenda“ – klingt richtig gut

Frankreichs Premier Jospin feiert seinen Einsatz für die Grundsatzerklärung einer Arbeits- und Sozialpolitik. Sie besteht aus sechs unverbindlichen Absichtserklärungen – und empfiehlt ihn dem heimischen Wähler

PARIS taz ■ Wenn es in Frankreich ein Adjektiv gibt, auf das Politiker überhaupt nicht verzichten können, dann dieses: „sozial“. Das Wörtchen steht in jedem politischen Programm und hat schon oft den Ausschlag für Sieg oder Niederlage gegeben. Besonders erfolgreich setzte es der Neogaullist Jacques Chirac 1995 ein, als er mit dem Slogan „gegen den sozialen Bruch“ Staatspräsident wurde. Zwei Jahre später eiferten ihm die rot-rosa-grünen Politiker nach. Sie wurden bekanntlich in die Regierung gewählt.

In diesem Frühsommer versuchten es der rechte Staatspräsident und die linke Regierung erneut mit „sozial“. Während der französischen Ratspräsidentschaft wollten sie die EU „sozialer“ gestalten. Premierminister Lionel Jospin stellte den französischen Parlamentsabgeordneten im Mai die drei „Achsen“ seiner Ratspräsidentschaft vor: ein Europa im Dienste von Wachstum und Vollbeschäftigung, eines, das den Bürgern näher rücke, und eines, das „effizienter und stärker“ werde.

„Unsere oberste Priorität“, so der Sozialist, „ist eine ehrgeizige Sozialagenda“. Der auf fünf Jahre angelegte Fahrplan sollte die Beschäftigungspolitik den Bedingungen einer gloabilsierten Wirtschaft anpassen und einen gemeinsamen Kampf gegen soziale Ausgrenzung und gegen jede Form von Diskriminierung einleiten. In manch französischem Ohr klang das so, als sollte aus dem Europäischen Binnenmarkt ein europäischer Sozialmarkt werden. Nachdem seit Mitte der 90er-Jahre die EU in Frankreich vor allem als Begründung für unsoziale Maßnahmen herhalten musste – von den Privatisierungen staatlicher Betriebe über den „Abbau“ von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst bis hin zu Einsparungen im Bildungsbereich –, schien dies verlockend.

In Nizza liegt jetzt das Ergebnis der hochtrabenden Ankündigungen auf dem Tisch. Es ist ein Kompromiss, der aus sechs schön klingenden Empfehlungen besteht. In einer komplizierten Nachtsitzung haben ihm Ende November sämtliche Arbeits- und Sozialminister der EU-Länder zugestimmt – auch jene aus Spanien und Großbritannien, denen die Sache anfänglich unheimlich war, weil sie keine EU-Reglementierung ihrer Sozialpolitik wollen.

Doch wenn die Staats- und Regierungschefs der 15 die Sozialagenda nun unterschreiben, müssen sie keine Reglementierungen befürchten. Selbst wenn sie erklären, dass sie künftig „mehr und bessere Arbeitsplätze“ schaffen oder „den Zugang zu Bildung und Fortbildung verbessern“ und „resolut gegen die Armut kämpfen“ wollen. Denn in der Sozialagenda fehlt jede Angabe zur konkreten Umsetzung.

Die Sozialagenda ist so formuliert, dass vollkommen unterschiedliche Interpretationen ihres Inhalts möglich sind. So kann die „Modernisierung der Sozialversicherungssysteme“ sowohl als Plan zur Einführung einer privaten Rentenversorgung verstanden werden wie auch als Anstoß zur Verbesserung der gegenwärtigen Rentenversorgung auf der Basis des Solidaritätsprinzips. Auch das Vorgehen gegen die Armut, von der in der EU immerhin 65 Millionen Menschen betroffen sind, bleibt nationale Sache. Zwar muss jedes Mitgliedsland bis Juni 2001 einen Aktionsplan gegen die Armut vorgelegen, doch gibt es keine Kriterien für dessen Evaluierung und keine Einflussmöglichkeit der EU-Kommission auf die nationale Arbeit. Marie-France Wilkinson, Sprecherin des Europäischen Netzwerks gegen die Armut, das wie zahlreiche andere NGOs versuchte, Einfluss auf die Verhandlungen über die Sozialagenda zu nehmen, bedauert diese Unverbindlichkeit. So laufe es darauf hinaus, dass die EU „auf der einen Seite Aktionspläne gegen die Armut“ veranlasse und auf der anderen „Wirtschafts- und Währungsprogramme, die Armut herstellen“.

Frankreichs Premierminister Jospin seinerseits feiert die Sozialagenda bereits als einen der Erfolge der französischen Ratspräsidentschaft. So kann er in Nizza gleich zwei EU-Grundsatzpapiere vorlegen, die das Adjektiv „sozial“ enthalten. Die Grundrechtecharta, deren 54 Grundrechte zwar stellenweise weit hinter dem nationalen Sozial- und Arbeitsrecht zurückbleiben. Und die Sozialagenda. Für die nächsten Wahlen in Frankreich ist das gar nicht so schlecht. Vielleicht hilft es sogar, die Antiglobalisierer im Land ein bisschen zu beruhigen. DOROTHEA HAHN