Whatever Gets You Thru The Night

Wanderzirkus der Hysterie oder Das Glücksversprechen der Pop-Dienstleister: Die deutsche Charts-Show „The Dome“ ist ein Kommerzspektakel der Superlative, doch die Begeisterung der Fans ist echt. Millionen Mädchen tanzen, kreischen, weinen

von HEIKE BLÜMNER

Gäbe es einen digitalen Gott, er würde seine Stimme so erheben: „Ladies and gentlemen: This is the dome.“ Das ist der Sound of Prophezeiung, der einem alle drei Monate auf RTL 2 entgegenschallt. Gefolgt von einem Kirmestechno-Halleluja-Jingle, der sich auf ewig in die Gehörgänge einbrennt. „The Dome“, das ist „der größte Jugend-Musikevent“, „eine Party der Superlative“, „eine Show der Superlative“ oder auch auch „die Chartparty der Megastars“, wie die Werbetexte der verschiedenen beteiligten Firmen sich gegenseitig zujubeln. Hier treten alle Bands auf, die derzeit weit oben in den deutschen Charts sind oder dort demnächst landen werden.

„The Dome“ entsteht alle drei Monate an wechselndem Ort als Wanderzirkus – mal in Erfurt, mal in Stuttgart – aus dem Zusammenspiel von RTL 2, der Hamburger Produktionsfirma Me, Myself & Eye, der Plattenindustrie und einigen gut ausgewählten Sponsoren. Daraus ergibt sich ein kommerzielles Pop-Spektakel, das nicht bloß in Deutschland seinesgleichen sucht: 1,3 Millionen Zuschauer pro Sendung vor dem Fernseher und, daran anschließend, eine Doppel-CD-Compilation, die sich noch einmal rund vierhunderttausendmal verkauft. Seit März dieses Jahres gibt es auch noch eine Zeitschrift zur Show: das Dome-Magazin hat eine Auflage von 80 000.

„The Dome“ gucken ist wie eine zu große Tüte Chips essen: Es macht süchtig, und hinterher ist einem so schlecht, dass man sich am liebsten von innen duschen würde. Darauf verzichten zu wollen wäre allerdings eine noch törichtere Vorstellung. „The Dome“ ist künstlich gelenkte Teenie-Hysterie, die von den Adressaten der Show aus tiefstem Herzen gelebt wird. Wenn man sich also eine Bravo zur Hand nimmt und die Stars, die dort gefeiert werden, nicht mehr kennt, dann ist es höchste Zeit, sich „The Dome“ anzuschaue – zumindest wenn man nicht die Angst hat, von jungen, hüpfenden, kreischenden Menschen und billigen Melodien könnte das Abendland untergehen.

„The Dome“ ist nicht nur im Fernsehen zynisch und perfekt – die Show findet tatsächlich, gegen allen Anschein der perfekten Simulation, auch wirklich statt: Sie wird jeweils etwa eine Woche vor dem TV-Sendetermin in einer deutschen Großraumhalle aufgezeichnet, mit großem Star-Aufgebot und vor knapp zehntausend zahlenden Besuchern – zuletzt, zum sechzehnten Mal und begleitet von einer Live-Übertragung auf der aufwendigen „The Dome“-Seite im Internet, am vergangenen Freitag im Berliner Velodrom.

Ticket To Rave

Passenderweise haftet dem Velodrom etwas komplett Außerirdisches an. Der riesige Betonklotz ist, als Überbleibsel der gescheiterten Bewerbung für die Olympischen Spiele, mitten im Niemandsland zwischen den Berliner Bezirken Friedrichshain und Prenzlauer Berg gelandet. Die Teenie-Bataillone, die bereits Stunden vor Beginn über die weitläufige Anlage streifen, sehen aus wie Touristen, die sich ehrfürchtig einer antiken Ruinenlandschaft nähern, um doch keinen wirklichen Zugang zu finden. Noch sind die Türen verschlossen und das Schlupfloch, das in die geheimnisvolle Tiefgarage führt, die durch eine Absperrung und Wächter gesichert wird, öffnet sich nur für eine Kategorie von Mensch: die Stars.

Von den allereifrigsten Fans, die schon am frühen Nachmittag vor Ort sind, wurde von den Veranstaltern bereits eine Hundertschaft aussortiert. Sie dürfen sich als Statisten zum Jubeln in zugigem, gänzlich unglamourösem Ambiente, ganz unten in der Tiefgarage links und rechts des auf Beton ausgerollten roten Teppichs platziert, die Beine in den Bauch stehen und darauf warten, dass in unregelmäßigen Abständen eine der schwarzen Limousinen mit „The Dome“-Wimpeln an jeder Seite vorfährt und die Stars über den roten Teppich im Velodrom-Eingang verschwinden. Jedes entfernteste Motorengeräusch löst hoffungsvolles Kreischen aus, auch wenn es sich in den meisten Fällen bloß um die Fahrzeuge des Malteser-Hilfsdiensts handelt. „Einige der Mädchen würden alles tun, um in den Backstagebereich zu kommen“, weiß Olivia Teruel, die „The Dome“-PR-Frau, zu berichten: „Sogar ihren Körper den Männern von der Security anbieten.“ Doch die Mädchen, die an diesem Tag Spalier stehen, wirken, wie auch die meisten Fans später in der Halle, eher so, als würden sie die Aufklärungsseiten in der Bravo noch zugunsten des Starschnitts überblättern. Sie sind ehrlich begeistert und entrückt.

Carola, Jessica, Franziska, Dunja, Anna und Kristin stehen am Velodrom-Eingang und können die Gründe für ihre Ehrerbietung präzise erläutern. Die Stars seien „wahnsinnig hübsch“, könnten „supergut tanzen“ und seien trotzdem „ganz normale, sympathische Menschen“. Für diese Wertschätzung erwarten sie von den einrollenden Performern als Gegenleistung Autogramme. Wer die jungen Damen mit Nichtachtung bestraft, gilt als arrogant oder schlicht „doof“. Einer, der „fast“ in diese Kategorie fällt, ist in ihren Augen Viva-Moderator Mola Adebisi. Er präsentiert die Sendung „The Dome Backstage“ und erscheint in unregelmäßigen Abständen auf dem roten Teppich. Die Mädchen müssen auf Kommando schreien, und er jagt dazu ein paar unverständliche Sätze ins Mikrofon. Danach dreht er sich um und verschwindet wieder.

Vielleicht müssen die scharfen Trennlinien zwischen Publikum und Stars aber auch aufrechterhalten werden, um zu verbergen, dass es vor Tür und Bühne um einiges lustiger ist als dahinter. Das Velodrom ist schließlich nichts anderes als eine moderne, große, graue Turnhalle aus Beton, in der Popstars bei Neonlicht betrachtet aussehen wie schlecht angezogene Menschen mit Pancake-Make-up, die entweder rauchen oder am Handy hängen, meistens jedoch beides. Derweil springt vorne über die Bühne, was man wohl einen „Anheizer“ nennt. Man könnte ihn der Einfachheit halber aber auch „die Pest“ nennen. Die Pest ist ein Mann, der sicher von sich glaubt, er hätte jugendlichen Charme. Er trägt ein orange-braun kariertes Hemd zu einer weinroten Hose und träumt wahrscheinlich davon, eines Tages Harald Schmidt abzulösen – was bei ihm bedeutet, unschuldige Teenager vorzuführen: „Ihr seid ein tolles Publikum, Berlin, ein megageiles Publikum“, sagt er zum Publikum, das ihn erwartungsvoll anglotzt. Das Publikum, das knapp fünfzig Mark Eintritt bezahlt hat, muss sich selbst beklatschen, während er in gänzlich spaßfreiem Spaßvokabular Sachen wie „herzlichen Glühstrumpf“ oder „zum Bleistift“ brüllt. Und dann: Action.

So richtig gut sehen kann man selbst von der Tribüne aus nicht. Scheinwerfer strahlen einem mitten ins Gesicht, und irgendjemand stiehlt einem immer die Sicht. Das Verhältnis Mädchen zu Jungs ist ungefähr siebzig zu dreißig. Fast alle Mädchen tanzen in cliquenspezifischen Tanzformationen. Bei Balladen zücken sie die Feuerzeuge und bewegen die Arme in rhythmisch graziösen Bögen. Die Jungs haben Blei in den Hüften und bewegen höchstens schüchtern die Lippen mit. Am schlimmsten sind jedoch die Pärchen: Sie sitzen wie erstarrt Arm in Arm auf den Sitzplätzen. Einundzwanzig Popstars toben an diesem Abend über die Bühne, die für jeden Auftritt verwandelt wird. Minimalistische Darbietungen vom Typ „ein Mann, ein Mikrofon“ werden von opulenten Inszenierungen abgelöst. Alle werden bejubelt – niemand muss das Gefühl haben, nicht geliebt zu werden, wobei natürlich jeder der Zuhörer seine persönlichen Präferenzen hat. Der Einfachheit halber werden die Performer in die als allgemeingültig anerkannten Kategorien „geil“ und „scheiße“ eingeteilt. Wie die Songs heißen, um die es geht, ist zweitrangig.

Give Dance A Chance

Einen überzeugenden Start leistet die Trash-Techno-Combo „Brooklyn Bounce“ mit Feuer, Explosionen und halbnackten Männern und Frauen in Käfigen. Da es bei den meisten Stücken nicht viel zu singen gibt, wird vor allem getanzt, was genauso hübsch ist. Weiterhin geil: Craig David, britischer R-’n-’B-Sänger und Superstar des Abends, Mr. X & Mr. Y alias Westbam und Africa Islam.

Die Moderatoren von „The Dome“ paddeln im Ozean der Belanglosigkeit nach Land. Sie heißen Daniel Hartwig von Viva und Carsten Spengemann aus der TV-Serie „Verbotene Liebe“. Eigentlich haben sie dem Ablauf des Abends wenig hinzuzufügen – außer zu bekräftigen, dass das Publikum „super“ ist. Dann folgt der nächste Act. Gerade an solchen Stellen aber weiß man eine Moderatorin wie Heike Makatsch mit ihrem Charme und Esprit im Nachhinein doppelt zu schätzen. Bestürzend ist Christian aus dem „Big Brother“-Container, der sein Lied „Es ist geil, ein Arschloch zu sein“ als Falco-Imitator mit Sonnenbrille, Trenchcoat und Sprechgesang vorträgt. Das Publikum allerdings liebt ihn. Ein noch schlimmerer Fall ist Jeanette Biedermann, die mit ihrem Namen gerecht bestraft ist. Die Schauspielerin aus „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ versteht sich als deutsche Antwort auf Britney Spears, sie taucht aber auch als Gastmoderatorin immer wieder auf und spricht mit abgepresster Engelsstimme und falscher Betonung, dass einem speiübel wird. Danach singt sie ein furchtbares Lied. Aber: Die Kids mögen auch sie.

Es gibt kein logisches Finale bei „The Dome“. Irgendwann haben alle gespielt, und dann ist es vorbei. Drei Stunden hat es gedauert. Ein großes Ereignis! Zum adäquaten Fernsehgenuss empfiehlt es sich, am Abend zuvor ausgelassen zu zechen, sodass man Samstag leicht debil und willenlos vor dem Fernseher hängt. Die richtige Grundstimmung für „The Dome“.

„The Dome“, ab 17 Uhr auf RTL 2. Mit: Rednex, Westlife, Anastacia, Craig David, Mauro Picotto, und Laith Al Deen. Ab 16 Uhr: „The Dome backstage“