Working Class Hero

Popkultur war ein Politikum. Und das schon vor der Studentenbewegung. Nicht nur bei John Lennon verbanden sich Konsum und Engagement zu einem neuartigen Gemisch

Sieben Tage nach der Ermordung von John Lennon brachte der Arbeiterkampf, das Organ des Kommunistischen Bundes, einen ganzseitigen Gedenkartikel. Der Autor, ein politischer Aktivist namens Björn, spürte die Kugeln des Mörders in sich selbst: „Dieser Killer hat mit dem Menschen Lennon auch auf einen wichtigen Abschnitt meiner eigenen Menschwerdung geschossen.“ 15 Jahre nach dem Beginn der „Roaring Sixties“ reflektierte ein junger Mann seine Politisierungsbiografie – weil ein Popstar gestorben war. Ein erstaunlicher Vorgang.

Erstaunlich deshalb, weil populäre Jugendkultur noch am Anfang der 60er-Jahre als das genaue Gegenteil von Politik angesehen wurde. Zwar beargwöhnten Hardcore-Konservative den Pop tendenziell immer noch als Einfallstor des Kommunismus. Lange Haare, weibische Klamotten, dreiste Sprüche – war ja klar, in welche politische Richtung das laufen würde. Doch die Mehrzahl der professionellen Beobachter sah die Dinge anders: Sie waren sich darin einig, dass die neuartige Erscheinung des „Teenagers“, der seit etwa 1959 gehäuft auftrat, als flächendeckende Entpolitisierung gedeutet werden musste. „Teenager“ galten als willenlose Objekte der Kulturindustrie, manipulierte Marionetten inmitten einer bunten Warenwelt. So war auch der Ruhm der Beatles, wie die Autorin Christiane Ehrhardt 1965 meinte, eine „Leistung von Reklame und Propaganda“, ein „hochgepeitschter Kult“.

Diese Entpolitisierung war unerwünscht – insbesondere angesichts der Konfrontationssituation des Kalten Krieges. Denn ein dumm gehaltener Nachwuchs wäre nicht nur kommerziell, sondern auch politisch „verführbar“. Besonders augenfällig schien sich die Ablenkungskraft des Unpolitischen im Kernbereich westdeutscher Identitätsbildung zu dokumentieren, in der geteilten Reichshauptstadt: „Wenn wir in Berlin zum Beispiel erleben müssen“, so ein resignierter Sozialpädagoge 1962, „dass eine Gruppe von Deutschen und Engländern vor allen Dingen darauf brennt, durch die Tanzlokale zu ziehen und schon vormittags in den Kellern untertaucht, die Mauer und die politische Lage der geteilten Stadt dagegen nur am Rande Interesse finden – dann ist die Mühe vergeblich gewesen.“

Aufwertung des Geschichtsunterrichts, Ausbau der politischen Bildung, die Aktionen des Kuratoriums Unteilbares Deutschland: Staatliche und private Initiativen setzten alles daran, die anscheinend unpolitischen Jugendlichen zum gesellschaftlichen Engagement zu bewegen – letztlich nicht ohne Erfolg, wie sozialwissenschaftliche Untersuchungen schon Mitte der Sechzigerjahre zeigten.

Gleichzeitig wurde immer deutlicher, dass die neuen Jugendkulturen durchaus nicht so unpolitisch waren, wie ihnen von Beobachtern stets attestiert wurde. Vor allem dort, wo es „hart, frech und schmutzig“ (Achim Reichel) zuging, wurden politische Statements vorgebracht: im Hamburger Star-Club, jenem Tanzschuppen mit Unterweltambiente, der 1962 den Ruhm der Beatles mit begründet hatte. Der Chef des Etablissements, Manfred Weißleder, setzte die dort gepflegte Musik dezidiert gegen die deutsche Vergangenheit ab und versah sie mit antimilitaristischen und liberalen Merkmalen. In der ersten Ausgabe der meinungsstarken Star-Club-News vom August 1964 verkündete er programmatisch: „Jedem nüchtern denkenden Menschen ist [...] ein Beatle-Haircut lieber als der militärische Plätzchenschnitt unserer jüngeren Geschichte. Und elektrische Gitarren erzeugen einen angenehmeren Klang als das Landsknechtsgetrommel und die Fanfaren der schon wieder gen Ostland drängenden neuen Jugendverbände. Auch wenn diese vorgeben, für eine Freiheit zu tönen, in der mancher dem Nächsten sogar seinen Haarschnitt und seinen Musikgeschmack vorschreiben will.“

Die Politisierung der Jugendkultur setzte also keineswegs erst im Jahre 1968 ein. Die Studentenbewegung hat diesen Prozess dann nur noch radikalisiert. Dabei standen viele ältere Studentenaktivisten der Popkultur sogar eher skeptisch gegenüber – eben weil sie als rein konsumistisch angesehen wurde. Zwar hörte man gerne französische Chansons, deutsche Liedermacher, auch amerikanische Folk Musik – aber nur, solange kein Strom im Spiel war. Nachdem Bob Dylan die akustische Klampfe gegen eine krächzende E-Gitarre eingetauscht hatte, wollten die Veranstalter des berühmten Festivals auf der Burg Waldeck die amerikanischen Folkstars nicht dabeihaben, weil „die Dylans [...] kommerziell festgelegt“ seien.

Der jüngere Nachwuchs hingegen – linke Oberschüler und Studienanfänger – neigte durchaus der elektrifizierten Musik zu, beklagte aber ihre Entpolitisierung. 1967 beschrieb der Göttinger Primaner und Vorsitzende der SDS-nahen Schülerorganisation, Reinhard Kahl, diesen Depolitisierungsmechanismus: War Beatmusik ursprünglich „so etwas wie ein revolutionärer Protest, Anklage gegen die Gesellschaft und Entrückung von der Gesellschaft zugleich“ gewesen, so hat „unsere Industrie [...] es verstanden, den Beat zu integrieren, zu entpolitisieren und zu einer Konsumsparte zu machen“. Auch Arbeiterkampf-Autor Björn konstatierte im Rückblick einen Entfremdungsprozess: Während die Schüsse auf Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke durch Berliner Straßen hallten, beschäftigten sich die Beatles – life goes on – mit „Ob-la-di-ob-la-da“.

Was aus der Sicht der Jungintellektuellen statt dessen folgen musste, war klar: eine erneute und verstärkte Politisierung der Popkultur. Und so geschah es auch. Neue Jugendzeitschriften, die Pop und Politik zum Konzept einer „Poprevolution“ verschmolzen, schossen aus dem Boden wie auch vergleichbare Jugendsendungen im Fernsehen. Nun hörte „der unverbindliche Beatspaß auf“, wie das 1969 gegründete Periodikum Underground jubelte.

Allerdings zeigte sich, dass die Bereitschaft des Publikums begrenzt war, eine derartig umfassende Politisierung zu akzeptieren. Im Jahre 1971 wurde ein Großteil der politisch durchwirkten Popmusiksendungen wieder eingestellt. Nur noch in der linksradikalen und alternativen Szene hielt man an einer engen Verbindung von popkulturellem Hedonismus und harter Politik fest. Hier gab John Lennon, der sich seit 1969 zunehmend politisch betätigte, eine vorzügliche Identifikationsfigur ab. Er verkörperte den Spannungsbogen von einem rebellischen Aufsteiger mit Working-class-Hintergrund über die zeitweilige kulturindustrielle Vereinnahmung am Puls der Popkultur hin zum entschiedenen politischen Engagement. In dieser widersprüchlichen Entwicklungslinie konnte sich nicht nur Björn vom KB wiederfinden, sondern all jene, in deren Plattenregal David Bowie neben Ernst Busch stand, die mit Peter Weiss im Gepäck an die Algarve trampten oder im Heckflosser-Benz gemeinsam die Internationale anstimmten: Imagine a new working class hero.

DETLEF SIEGFRIED

Zitat:„Unsere Industrie hat es verstanden, Beat zu entpolitisieren und zu einer Konsumsparte zu machen“

Artikelhinweis:Während auf Benno Ohnesorg geschossen wurde, beschäftigten sich die Beatles mit „Ob-la-di-ob-la-da“