Quer durch alle Stile gesurft

Mediales Evangelium als moderner Religionsersatz: Die Sozialoper „Das Wunder von Neukölln“ auf Kampnagel  ■ Von Dagmar Penzlin

Medien machen Sensationen. Jedenfalls haben Medien die Macht, private Einzelschicksale in öffentliche Erzählungen zu verwandeln. Mit dieser Macht verantwortungsvoll umzugehen ist so gar nicht hip in Zeiten von Big Brother und endlosem Daily Talk. Auch Das Wunder von Neukölln handelt von den Untiefen des Sensationsjournalismus. Das gefeierte Musical von Peter Lund und Wolfgang Böhmer ist derzeit als Gastspiel der Neuköllner Oper auf Kampnagel zu sehen.

Texter Lund und Komponist Böhmer haben ihr Musical als Sozialkomödie mit Musik entworfen. Natürlich ist das Stück auch eine schräge Hommage an den Berliner Stadtteil Neukölln, wo das Off-Theater von Lund 1988 in einem ehemaligen Ballsaal seinen festen Spielort fand. Neukölln, gern auch als deutsche Bronx betitelt, ist das, was man einen sozialen Brennpunkt nennt: Viele Ausländer leben in dem Bezirk, die Arbeitslosenquote und die Zahl der Sozialhilfeempfänger sind hoch, Drogen und Gewalt gehören zum Alltag. Auch Hamburg hat solche Stadtteile, man denke zum Beispiel an Wilhelmsburg.

Doch wo Das Wunder von Neukölln stattfindet, ist eigentlich egal. Überall gibt es Frauen wie die Kassiererin Janine Majowski (beherzt: Christine Rothacker). Ihr alkoholabhängiger Freund (Klaus Döberitz) schwängert sie und macht sich aus dem Staub. Janine verliert auch noch ihren Job und bringt schließlich ein behindertes Kind zur Welt. In ihrer Not erinnert sie sich an die Zufallsbekanntschaft mit dem Fernsehjournalisten Johannes (Gerd Lukas Storzer). Er initiiert eine Spendenaktion zu Gunsten des kleinen Dennis Majowski und bringt damit eine gewaltige mediale Lawine ins Rollen. Zeitungen und etliche Sender reißen sich um die Exklusivrechte. Johannes mutiert zum findigen Agenten von Janine plus gesamter Prolo-Familie und vermarktet alles gnadenlos. Keine Homestory ist ihm zu platt, kein Vertrag zu pietätlos. Selbst der Leichnam der Großmutter (Silvia Bitschkowski) muss für Fotos herhalten.

Medien machen Sensationen. Und so gipfelt auch der Trubel um das behinderte Baby in der Annahme, dass der Kleine Wunder vollbringen könne. Ob vermeintliche Spontanheilung von Janines krebskranker Mutter oder übernatürlicher Beistand bei der Jobsuche: Heilsbringer Dennis macht's möglich. Bald schon pilgern hüftlahme Rentnerinnen und andere Hilfesuchende herbei.

Das Musical beschränkt sich aber nicht auf die Dokumentation dieses Medienereignisses, sondern lässt auch die Sehnsucht nach Transzendenz aufscheinen, die die Konsumenten der Dennis-Story umtreibt. So stimmen alle Figuren einen inbrünstigen Gospel an, um das Wunder von Neukölln zu besingen: Das mediale Evangelium wird hier zum Religionsersatz.

Medien machen Sensationen. Auch Das Wunder von Neukölln wird seit seiner Uraufführung im Dezember 1998 von den Kritikern als (kleine) Sensation der Off-Szene gehandelt. Und tatsächlich gelingt dem Musical die Gratwanderung zwischen mitreißender Unterhaltung und sozialkritischer Studie, die sich nicht mit Seitenhieben auf den Sensationsjournalismus zurückhält. Wenn auch im zweiten Teil ein wenig langatmig, ist das Stück von Lund gut gebaut und spielt witzig-virtuos mit Slang-Platitüden, während Böhmers Musik quer durch alle Stile surft. Warum der Komponist jedoch in einer Szene aus der Wahnsinnsarie von Donizettis Lucia di Lammermoor zitiert, erschließt sich nicht.

Die dichte Inszenierung von Bernd Mottl hat ihre besten Momente in den grellen, revueartigen Szenen. Das Ensemble überzeugt insgesamt mehr darstellerisch als stimmlich, was aber dem Vergnügen an diesem intelligenten Stück Musiktheater keinen Abbruch tut. Ob Das Wunder von Neukölln wirklich einmal Kult-Status erreichen wird, sei dahingestellt. Fest steht allerdings: Medienereignisse gibt es immer wieder, gute Musicals hingegen seltener.

Weitere Vorstellungen: bis zum 23. Dezember, jeweils dienstags, 18 Uhr, und mittwochs bis samstags, 19.30 Uhr, Kampnagel (k6)