Wie damals, nur nicht ganz so

Die Messehallen laden zum größten Klassentreffen der Welt. Wer Abi-Treffen kennt, weiß, wie es wird. Alte Geschichten werden aufgebrüht: von der Heirat, dem Job, der Scheidung und dem Selbstmord des Klassenersten. Die taz hat entschieden vorgefühlt

von PHILIP MEINHOLD

Irgendwann trifft es jeden. Unser Treffen zum zehnjährigen Abitur fand im Herbst statt, also einige Monate zu spät – wie bei Jubiläumsklassentreffen so üblich. Bis zum Sommer hofft jeder, dass ein anderer es organisieren möge, und irgendjemand erbarmt sich dann doch. Zehn Jahre Abi, das muss man schließlich feiern, das ist fast so wichtig wie das Abitur selbst. Mal kucken, was aus wem geworden ist – beziehungsweise aus wem was geworden ist! Wer allerdings im 20. Semester studiert, überlegt, ob er sich das wirklich antun muss. Otto dagegen hat es zur eigenen Kanzlei gebracht; die Einladung trägt den Absender seines Anwaltsbüros. Und um die Anschriften hat sich Karsten gekümmert, Fascho-Karsten, wie wir ihn früher nannten. Heute ist er bei der Polizei. Er hat die Meldeadressen vom gesamten Jahrgang besorgt.

Das Einladungsschreiben hat das Humorniveau einer Schülerzeitung: „Als Gastredner konnten gewonnen werden: Herr Brauns, Herr Kuhrschraag, Frau Vogel ...“ Es folgen weitere Namen von unangenehmen Vertretern des Berufsstandes Lehrer, na ja. Immer noch besser als: „Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben“ – geschrieben von denen, die wie ihre Eltern sind.

Und dann steht man vor dem Kleiderschrank und überlegt, was man anziehen soll. Lederjacke oder Jackett? Rebell oder angepasst, wie will man erscheinen? Klassentreffen sind der Laufsteg für das eigene Leben, jedes Kleidungsstück ein Puzzleteil im Charakterbild. Ich entscheide mich für Jeansjacke und Businesshemd; ein feiger Kompromiss, ich gebe es zu. Und dann wird es so, wie schon Erich Kästner schrieb: „Sie trafen sich, wie ehemals / im ersten Stock des Kneiplokals.“ Genau um die Ecke der Schule.

Gleich an der Tür sind alle Vorhaben vergessen, mit einer einzigen Frage zunichte gemacht. Peer steht da, grinst mich auffordernd an, und ich frage: „Und, was machst du jetzt so?“ Mir fällt halt nichts anderes ein. Obwohl ich fest vorhatte, es anders zu machen, nicht diese typischen Gespräche zu führen. Ein Unterfangen, das sinnlos ist. Als versuche man, Weihnachten wie jeden anderen Tag auch zu begehen. Es gibt einfach kein Entrinnen. Ein Freund erzählte, bei seinem Abi-Treffen hätte es Formulare gegeben, in die jeder Ehemalige Beruf, Werdegang und Familienstand eintrug. Die Zettel wurden mit Wäscheklammern an einer Leine befestigt und quer durch den Raum gespannt. Damit man nicht immer das Gleiche erzählen muss; eine gelungene Idee. Mit dem Ergebnis, dass keiner mehr fragte: „Was machst du jetzt so?“ Sondern: „Und du bist jetzt also Bauingenieur?“

Es folgen die immer gleichen Fragen

Weiter geht’s mit den üblichen Fragen: verheiratet? Kinder? Wo wohnst du denn jetzt? Mit wem hast du noch Kontakt? Anschließend hat man sich nichts mehr zu sagen, die Fakten sind ausgetauscht, also weiter. Es sind noch genug andere da, mit denen man auch reden will. Zehn Jahre Abi – das ist wie ein kollektiver 30. Geburtstag. Bilanz und Feier in einem. Ein Abend, der aus verbalen Zehn-Minuten-Biografien besteht. Berufe werden ausgetauscht wie früher Begrüßungsküsse: Krankengymnastin, Architekt, Beamter, Hotelfachmann, Bankangestellter, erstaunlich viele Studenten. Ein beruflicher Querschnitt, biografischer Durchschnitt, so wie in anderen Abiturjahrgängen auch. Der Jahrgangsbeste hat Selbstmord begangen. Ein Paar von damals ist noch immer zusammen. Bestimmung oder schlicht Pech?

Die Ehemänner stehen am Tresen und trinken Kurze und Bier. Hopp, hopp, rinn in Kopp; so jung kommen wir nicht mehr zusammen. Zwei haben ein Haus und einer vier Kinder. Was zu den gängigen Scherzen führt: in Bio nicht aufgepasst; sonst welche Hobbys? Bis irgendwer mit den Anekdoten beginnt: „Weißt du noch, auf der Klassenfahrt ...“ Wie laut Menschen sein können, wenn sie sich nichts zu erzählen haben!

Irgendwo schreit eine Frau lachend auf, sie hört ihren alten Spitznamen wieder: Püppi, seit Jahren zum ersten Mal. Püppi bleibt Püppi, und auch alle anderen finden in die alten Rollen zurück. Die Nervige nervt, und der Clown ist der Clown. Und einer steht alleine am Tresen – wie damals der Ausgestoßene, nur heute als Mann. Erwachsene werden zu Schülern.

Späte Chancen, Natascha zu küssen

Irgendwer reicht einem einen Bierdeckel mit seiner Telefonnummer drauf. Sicher, man meldet sich, ganz bestimmt – und hat es wirklich fest vor. Und mit irgendwem führt man dann wirklich ein richtiges Gespräch. Mit jemandem, den man zu Schulzeiten fast gar nicht kannte. Auch das ist so überraschend wie üblich. Bis schließlich die Frage ins Hirn rieselt, ob man gehen soll, ob es das jetzt wirklich schon war. Was soll man hier eigentlich noch?

Ich wäge die Chancen, noch einmal Natascha zu küssen, wie damals, sie konnte das gut. Die Chancen sind eher gering. Sie ist verheiratet und gerade zum zweiten Mal schwanger. Man könnte auch noch vor die Schule ziehen, wie mit 17, die Scheiben des Lehrerzimmers einwerfen. Doch auch diese Idee scheint zu rückwärts gewandt. Man kann der Zeit zwar die Zunge rausstrecken, aber aufhalten kann man sie nicht. Weit nach Mitternacht greift man schließlich zur Jacke. Und die, die noch da sind, schreien: „Du willst doch nicht schon gehen? Mit dir ist ja gar nichts mehr los.“ Es sind die Ehemänner, die sich so amüsieren. Auch Kästner kannte sie schon: „Erst dreißig Jahr, und schon zu spät! / Sie saßen breit und aufgebläht / wie nicht ganz tote Leichen.“ Irgendwer ruft mir durch die Tür hinterher: „Bis in zehn Jahren dann!“

Das größte Klassentreffen der Welt, ab heute in den Messehallen unter dem Funkturm. Freitag für alle Berliner Jahrgänge von 1970 bis 82, Samstag für Jahrgänge von 1956 bis 1970, Sonntag von 1920 bis 1955. Prost!