jazzkolumne: Ein Rückblick auf das Jahr der Pianisten
Den Kanon kontern
Dieses Jahr war eine Saison der Pianisten. Allen voran sorgte Joachim Kühn mit seiner CD „The Diminished Augmented System“ für Brillanz, und sein Auftritt beim Frankfurter Jazzfestival war überhaupt die Krönung. Kühn spielt Musik von Ornette Coleman und ist binnen weniger Jahre zur festen Größe des harmolodischen Universums geworden. Seine eigenen Kompositionen sind stark inspiriert von den bezaubernd schönen Sounds aus dem Coleman’schen Studio in Harlem, New York.
Dagegen klingt der Aufsteiger der amerikanischen Jazzpianoszene fast schon wieder berechenbar: Für den fünfundzwanzigjährigen Pianisten Jason Moran brachte dieses Jazzjahr vor allem Konsolidierung. Seinem viel beachteten Debüt „Soundtrack To Human Motion“ folgend, hört sich die 2000er CD „Facing Left“ doch eher nach Zurücknahme an. Durch dreizehn teils schnell, sehr schnell erzählte Geschichten rast diese klassische Pianotriobesetzung mit Bass und Schlagzeug. Die erste Atempause gönnt sich Moran mit einer einfühlsamen Interpretation von Björks Ballade „Joga“ bei Titel drei. Coverversionen von Ellingtons „Lately“ und „Wig Wise“ nutzt er geschickt als Improvisationsgrundlage zur Selbstdarstellung.
Jazzhistorisch gesehen hängt die Latte für Pianotrios derart hoch, dass man gute Gründe und noch bessere Ideen haben muss, um eine weitere Trioeinspielung zu wagen. Moran zeigte sich nach dieser CD jedenfalls selbst erstaunt darüber, dass die Stücke so kurz ausfielen. Nach dem sechsten Titel lässt die Spannung spürbar nach – nicht, dass nun schon alles gesagt wäre, aber auf einmal scheint sich die Geschichte im Kreis zu drehen. Die Möglichkeiten, das Piano als Melodie-, Harmonie- und Perkussioninstrument zu nutzen, sind schon lange ausgereizt. Und so virtuos und sympathisch introvertiert der Brad-Mehldau-Auftritt bei den bundesweiten JazzNights kürzlich auch gewesen sein mag, die Befreiung der Solisten vom Joch der hierarchischen Struktur im klassischen Jazzpianotrio wurde schon vor vierzig Jahren vollzogen.
Doch was treiben deren Protagonisten? Der Bestseller unter den Klaviervirtuosen bot sich mit dem Live-Album „Whisper Not“ an, es dokumentiert die Rückkehr des Keith Jarrett in den Konzertsaal. Seine Solo-CD „The Melody At Night“ war während längerer Krankheit im Heimstudio aufgenommen worden, und Jarrett, nie müde, sein Schaffen zu kommentieren, spricht seitdem von einer größeren Energiekonzentration und von einem gänzlich neuen Zugang zur Balladentradition. Kurz vor Veröffentlichung von „Whisper Not“, einem Konzertmitschnitt aus dem Jahre 1999, entgegnete Jarrett in einem Leserbrief an die New York Times dem Bonmot des Trompeters Wynton Marsalis, wonach das Solo ein Missverständnis der Jazzgeschichte sei. Es komme wohl darauf an, um wessen Solo es sich handele, witzelte Jarrett, der seit Jahren verärgert ist über die Bedeutung, die Marsalis im zeitgenössischen Jazz zugeschrieben wird.
Jarrett sieht sich als Bewahrer und Erneuerer des großen Jazzerbes. Doch „Whisper Not“ hat nur wenig von der Wahnsinnsenergie, die man auf Jarretts „At The Blue Note“-Box spüren kann, und sie wirkt in der beanspruchten Konzentration auf die Melodie schon etwas behäbig, ja unfrisch. Mag sein, dass Jarretts unfassbar gutes Standards-Trio mit Gary Peacock, Bass, und Schlagzeuger Jack DeJohnette für den geneigten Insider noch das eine oder andere Hintertürchen offen hält, doch im Groben scheint dieses Projekt an seine Grenzen gestoßen zu sein. Das Gefühl stellt sich ein, dass diese Musik voraussagbar sei. Und das liegt vor allem daran, dass Jarrett – wie Marsalis auch – sich an ein völlig überaltertes Themengerüst klammert, das schon vor dem Aufkommen des Rock ’n’ Roll eingefroren wurde und die musikalischen Sozialisationserfahrungen einer amerikanischen Großvätergeneration bedient, die von James Brown und Creedence Clearwater Revival bis heute noch nichts gehört haben.
Doch was wird verlangt? Der Pianist Jaki Byard starb unter mysteriösen Umständen, am 11. Februar 1999 wurde er im Alter von sechsundsiebzig Jahren in seiner Wohnung im New Yorker Stadtteil Queens erschossen aufgefunden. Auf seiner jüngst wieder veröffentlichten Aufnahme aus dem Jahre 1978, „Family Man“, ist dokumentiert, dass er ein Sonderfall in der Geschichte des Jazzpianos war. Kaum einer war in so vielen verschiedenen Stilen zu Hause: Stride, Swing, Bop, Free und Funky – Byard konnte alles und machte doch nur wenige Plattenaufnahmen. 1964 war sein Jahr gewesen, als er mit Charles Mingus in Europa große Erfolge feierte. Doch über die Musikerkreise hinaus erreichte er später nie mehr die Anerkennung, die er verdient hätte.
Auch Nick Drakes „River Man“, einem Titel aus der Singer-Songwritertradition der Siebziger, schien fast schon vergessen, bevor er durch zwei unterschiedliche Interpretationen zum Pianothema dieses Jazzjahres wurde. Der Pianist und Sänger Andy Bey interpretierte Drakes Komposition beim Berliner JazzFest und Brad Mehldau in der Alten Oper Frankfurt als Zugabe. Wie schon in Kühns Coleman-Stoff lässt sich auch darin die Tendenz spüren, dass in der geschickten Öffnung des Repertoires die Chance besteht, den Kanon zu kontern.
CHRISTIAN BROECKING
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