: Schüsse schön gerechnet
von OTTO DIEDERICHS
Im Sommer 1999 herrschte eine Art hysterischer Ausnahmezustand in Deutschland. Die Polizei suchte mit Großaufgebot nach dem vierfachen Mörder Dieter Zurwehme. Eine Hotelangestellte im thüringischen Heldrungen meinte Zurwehme am 27. Juni in einem älteren Wanderer erkannt haben. Sie infomierte die Polizei. Eine Streife kam, klopfte spät nachts an die Tür des Schlaftrunkenen, um seine Personalien zu überprüfen – der Mann warf verstört die Tür zu, die Polizisten schossen: Der 62-jährige Friedhelm Beate war tot. Er hatte mit Zurwehme rein gar nichts zu tun.
Ein erstes Gerichtsverfahren gegen die Todesschützen wurde im Dezember 1999 eingestellt. Ein Gutachten hatte ihnen eine „starke Stresssituation“ bescheinigt, als deren Folge die Schüsse „nicht auf einer bewussten Handlung“ beruht hätten.
Kein Schusswaffeneinsatz der Polizei hat 1999 so viel Aufsehen erregt wie dieser. Doch die Todesschüsse wurden nicht nur juristisch, sondern auch statistisch entsorgt. Jeweils zum Beginn des Folgejahres werden alle Fälle von polizeilichem Schusswaffengebrauch von der Polizei-Führungsakademie (PFA) in Hiltrup gesammelt, ausgewertet, in einer Statistik zusammengeführt und an die Innenministerkonferenz (IMK) weitergeleitet. Vom jeweiligen IMK-Vorsitzenden wird die so genannte Schusswaffengebrauchsstatistik dann veröffentlicht.
So war es jedenfalls bislang. Unterdessen zeichnet sich jedoch offenbar eine Tendenz ab, von dieser Praxis abzurücken. Nach Recherchen des in Berlin erscheinenden Informationsdienstes Bürgerrechte & Polizei/Cilip hat Sachsens Innenminister Klaus Hardraht (CDU) als IMK-Vorsitzender im letzten Jahr keine Statistik für 1998 veröffentlicht. Dies bestätigte ein Sprecher des nordrhein-westfälischen Innenministers Fritz Behrens (SPD) jetzt der taz. Behrens als derzeitiger IMK-Vorsitzender ist bereits seit dem Frühjahr 2000 im Besitz der Auswertung für 1999. Über eine Veröffentlichung, so sein Sprecher Ulrich Rungwerth, sei allerdings noch nicht entschieden, möglicherweise werde man sich dem sächsischen Vorbild anschließen. Immerhin war er aber bereit, die Zahlen zu nennen (siehe Kasten).
Danach starben im vergangenen Jahr 15 Personen durch Schüsse von PolizeibeamtInnen. Im Gegensatz zu dieser offiziellen Zahl hat der Informationsdienst Cilip, der seit 1974 regelmäßig eine eigene Statistik veröffentlicht, insgesamt 19 Todesschüsse recherchiert. Die Erklärung für die Differenz ist ebenso simpel wie skandalös: So genannte „unbeabsichtigte Schussabgaben“, bei denen ein Mensch ums Leben kommt, werden auf Beschluss der Innenministerkonferenz seit 1983 nicht mehr mitgezählt. Durch diesen Trick, mit dem sich die IMK ihre Statistik schön rechnet, sind damit für 1999 vier Fälle glatt weggefallen. Den Erfassungskriterien der IMK folgend ist einer von ihnen der Tod des Friedhelm Beate. Das thüringische Innenministerium wollte sich hierzu nicht äußern. Da die Staatsanwaltschaft im August 2000 die Ermittlungen wieder aufgenommen habe, so eine Sprecherin, handele es sich um ein schwebendes Verfahren, zu dem man grundsätzlich nichts sage.
Selbst wenn dieses Verfahren zu einem anderen Ergebnis kommen sollte, wird es auf die abgeschlossene, hausinterne IMK-Statistik 1999 keine Auswirkungen mehr haben. So wird der Tod des Friedhelm Beate zu einem bedauerlichen Unfall. Zu unbedeutend, um auch nur als Zahl in einer Statistik aufzutauchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen