Eine große Erzählung

Die Psychoanalyse ist in der Krise. Lange wurde sie wie eine Glaubenslehre betrieben. Hat die Theorie des Unbewussten noch eine Zukunft: als kunstvolle Wissenschaft?

Mit dem „Verschwinden des Subjekts“, so Foucault, sei die Grundlage für die Psychoanalyse entfallen

Es besteht Anlass zur Sorge über die prekäre Zukunft einer jener großen Menschheitserzählungen, die zwar das letzte Jahrhundert überdauert, deren Faszination aber sichtlich nachgelassen hat. Nachdem die Psychoanalyse sich in abgeschlossenen Einrichtungen organisiert und, als strenge Hüterin der Wahrheit, den infektiösen Kontakt mit der Wissenschaft lange vermieden hat, herrscht gegenwärtig große Ernüchterung in der Szene. Zurückgehende Patientenzahlen und konkurrierende therapeutische Angebote, die raschere Heilung zu geringeren Kosten versprechen, bedrohen die Existenz des psychoanalytischen Berufs. Die Diskursführerschaft in den großen gesellschaftlichen Debatten ist verloren gegangen, auch wenn Begriffe wie Verdrängung, Abwehr, Über-Ich oder Narzissmus jedes Feuilleton zieren und inzwischen bereits umgangssprachlich verwendet werden. „Die Patienten wollen das Medikament nicht mehr, die Wissenschaften wollen die Wahrheiten nicht mehr, und die Öffentlichkeit will die Aufklärung nicht mehr, die wir ihnen anzubieten haben.“ Auf diese Formel hat Reimut Reiche, vor dreißig Jahren einer der intellektuellen Köpfe der Studentenbewegung und inzwischen selbst ein profilierter Psychoanalytiker, die Lage seiner Zunft einmal gebracht.

Gern möchte man diese Entwicklung der postmodernen Denkverwilderung zuschreiben, die mit den sperrigen, aber kostbaren Gütern der edlen Disziplin nichts mehr anfangen könne, und reagiert beleidigt auf die Zumutungen der Welt – eine empfindliche Haltung, die sich am periodischen Psychoanalyse-Bashing im Spiegel oder in der Zeit erregt und viel von der eigenen Kränkung verrät. Das fördert freilich den Diskurs des Untergangs, welcher der Psychoanalyse von den Auguren des Zeitgeistes seit langem prophezeit wird. Mit dem „Verschwinden des Subjekts“, so verkündete Foucault, sei die Grundlage für eine Theorie des mit sich selbst identischen Individuums entfallen. Scheinbar übereinstimmend hatte die Kritische Theorie vom „Veralten der Psychoanalyse“ gesprochen (auf diese verblüffende Kontinuität hat Axel Honneth im Novemberheft von Psyche wieder hingewiesen). Wo Adorno und Marcuse die verlorene Autonomie des Subjekts aber kulturkritisch beklagten, feiert die Postmoderne seine Auflösung in der Pluralisierung von Lebensentwürfen als Bereicherung. Unter den Desideraten eines ständigen soziokulturellen Wandels mit der Dauerrevision von Selbst- und Weltbildern sei Ich-Identität eher hinderlich. Die flexible Persönlichkeit, im Netzwerk der sozialen Beziehungen ohnehin bloß ein Knotenpunkt, komme besser ohne feste Strukturen aus. Mit der Entwertung von Charakter, Vergangenheit und Lebensgeschichte, so scheint es, entgleitet der Psychoanalyse auch ihr Gegenstand: das Subjekt.

Das ist freilich ein Missverständnis. Gerade Freud hatte mit der Entdeckung des Unbewussten die Vorstellung eines autonomen Subjekts unterminiert. Weit entfernt von einer spätbürgerlichen Heroisierung des Individuums hatte er dessen innere Souveränität in Frage gestellt und in seiner psychoanalytischen Dekonstruktion den beiden großen Kränkungen der Menschheit durch Kopernikus und Darwin eine dritte hinzugefügt: Im Es war das Ich bereits dezentriert, das sich nicht länger als „Herr im eigenen Hause“ fühlen konnte. Aber er verbannte dieses fremde Alter Ego in einem Akt der Rezentrierung ins Körperinnere des Trieblebens und stellte es in der Tradition des cartesianischen Dualismus dem Außen der Welt entgegen. Neuere relationale Strömungen der Psychoanalyse haben im Unbewussten den Anderen ausgemacht und damit das Organismusmodell der klassischen Triebtheorie aufgebrochen. Das Individuum wird nicht länger als eine Monade betrachtet, die sich aus einem festen biologischen Kern und in den Stürmen des intrapsychischen Konfliktgeschehens entwickelt. Das Subjekt generiert sich in intersubjektiven Zusammenhängen, das Eigene entsteht im Spiegel des Anderen über weitgehend unbewusste Prozesse der Identifizierung und Abgrenzung. Zum Außen und Innen gesellt sich das Zwischen als etwas Drittes.

Unter diesem Paradigma der Intersubjektivität hat die Psychoanalyse wieder Anschluss an einen intersubjective turn im Diskurs der Humanwissenschaften hergestellt, der heute auch die Neurobiologie erreicht hat und nur vom naiven biochemischen Reduktionismus der Gentechnologie konsequent ignoriert wird. Menschliche Entwicklung ist keine Kette von Triebschicksalen, Entfaltung genetischer Dispositionen oder Differenzierung innerer Strukturen nach Art eines endogenen Reifungsgeschehens, für das die Umwelt bloß Reize zur Verfügung stellt. Im wieder aufgenommenen Dialog mit den Nachbardisziplinen ist die Psychoanalyse mit beachtlichem Erfolg dabei, ihren Charakter als Glaubenslehre abzulegen, ihre Hypothesen zu validieren und sich von unbrauchbaren Konzepten zu verabschieden.

Unter den Vorzeichen einer solchen Öffnung veranstaltete die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV) in diesen Tagen einen Kongress zum Anlass ihres fünfzigjährigen Bestehens, auf dem sie sich der interdisziplinären Auseinandersetzung stellte. Sie setzte sich dabei selbstkritisch auch mit der eigenen Geschichte auseinander. Die DPV hatte sich 1950 aus der belasteten Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) gelöst, nachdem die Psychoanalyse in Deutschland durch die Emigration oder physische Vernichtung ihrer jüdischen Vertreter und die Gleichschaltung der spärlichen Restorganisationen im Nationalsozialismus gründlich zerstört worden war. In den 60er-Jahren waren es allerdings weniger diese offiziellen Fachvereinigungen als vielmehr das neu gegründete Sigmund-Freud-Institut und das wieder aufgebaute Institut für Sozialforschung, die durch die Erforschung der Tiefenstrukturen des Faschismus die Öffentlichkeit erreichten und der Psychoanalyse wieder Anerkennung verschafften.

Begriffe wie Verdrängung, Abwehr, Über-Ich oder Narzissmus zieren inzwischenjedes Feuilleton

Aber wo sind heute die Beiträge zu den irrationalen Erscheinungen der Gegenwart, die ohne eine angewandte Theorie des Unbewussten nicht angemessen untersucht werden können? Die scheinbar motivlosen Gewalttaten seelisch entwurzelter Jugendlicher auf der existenziellen Suche nach Erfahrung, die rational kaum zu erklärende Zunahme von Rechtsradikalismus und weißem Rassismus in der ehemaligen DDR, die absurden Perfektheits- und Unsterblichkeitsphantasien in den gentechnologischen Machbarkeitsillusionen, die gesellschaftliche Verdrängung der selbst erzeugten Gefahren im Umgang mit der Natur, die narzisstischen Formen der Identitätsbildung in den interaktiven Formaten des entfesselten Fernsehens – bedürfen diese Phänomene nicht einer verständigen psychoanalytischen Expertise, um sie verstehen und beantworten zu können? Wir brauchen die Psychoanalyse, nicht als Glaubenslehre, sondern als kunstvolle Wissenschaft.

MARTIN ALTMEYER