Man muss nur schneller leben

Junge Bewohner, hoher Lebensstandard. In dieser Stadt fürchtet man nur eines: Dass der marode Reaktor nebenan stillgelegt wird

aus Slawutitsch GABRIELE LESSER

Michail Dorum kneift die Augen zusammen. Ein eisiger Wind fegt über den Marktplatz von Slawutitsch. Hier steht das wichtigste Denkmal der Gegend. Es ist den „Liquidatoren“ von Tschernobyl gewidmet, den Männern, die am Tag des Unfalls und danach ihr Leben riskierten, um eine Explosion des Nachbarblocks zu verhindern. Der Atomtechniker zieht sich die Mütze tief ins Gesicht: „Die meisten sind tot. Natürlich. Sie haben die höchste Strahlendosis abbekommen.“ Dann schweigt er wieder, betrachtet die beiden naiv-bunten Bilder, die Tschernobyl darstellen sollen, das eine zur Zeit der Katastrophe 1986 in dunklen Farben, das zweite in lichter Zukunft in hellen Tönen. Dorum arbeitete im Atomkraftwerk, als Block 4 explodierte. „Hier ist irgendein Atomkraftwerk zu sehen, aber nicht Tschernobyl! Und keiner der Liquidatoren hat so einen dicken Anzug getragen. Die Amerikaner haben uns unsere Erinnerung geraubt.“ Ein amerikanischer Künstler hat die Bilder gemalt. Sarkastisch liest Michail Dorum die Aufschriften auf den Bildern: „,Solidarity forever‘ – Wer war denn 1986 mit uns solidarisch? ,We will build a new world‘? – Ich baue keine neue Welt auf. Ich habe Tschernobyl wieder aufgebaut.“

Michail Dorum ist 46. Aber er wirkt, als sei er zehn, zwölf Jahre älter. Seit 1989 gilt er als Invalide, darf nicht mehr im Atomkraftwerk arbeiten. „Am 15. Dezember, wenn auch der letzte Block endgültig abgeschaltet wird, werden die Ingenieure in Tschernobyl einen Trauerflor am Arm tragen. Für uns hier ist das eine Katastrophe. Ganz Slawutitsch lebt doch vom Atomkraftwerk.“

Noch hoffen die meisten der 28.000 Bewohner des Städtchens in der Nordwestukraine, dass der Bürgermeister es am Ende richten wird. Dass er doch noch einen Großinvestor anlocken kann. Dass vielleicht der Energieminister sich durchringt und neben Slawutitsch ein Gaskraftwerk errichten lässt. Doch der Niedergang der Stadt hat längst begonnen. In den Tageszeitungen zieht sich die Immobilien-Rubrik „Verkaufe“ über mehrere Spalten. Kaufen will niemand, obwohl die Preise im Keller sind. „Die Elite zieht weg“, regt sich der Bürgermeister auf. „Die finden als erstes in einer der anderen Atomstädte eine neue Arbeit. Aber damit bringen sie uns hier in Gefahr. Der Reaktor muss doch abkühlen, das Öl muss entsorgt werden, der Sarkophag ist rissig und muss erneuert werden. Dafür brauchen wird Sicherheitsexperten. Und das mindestens noch zehn Jahre lang.“ Doch auch der Staat scheint Slawutitsch schon abgeschrieben zu haben. Verstreut über die ganze Stadt ragen Bauruinen in den Himmel.

Grün, unnatürlich grün wirkt Pripjat. Einst war dies die „Stadt der Atomwerker“. Heute hängen in den Häusern für 50.000 Menschen die Türen nur noch schief in den Angeln, die Fensterscheiben sind zerbrochen, Spielzeug und Schuhe liegen vergessen und verstaubt in den hastig verlassenen Wohnungen. Auf den Straßen bricht der Asphalt auf: kräftiges grünes Gras wächst dort, leuchtend grünes Moos und wildes grünes Getreide. Von Ferne wirkt das gelbe Riesenrad noch heute, als könne es sich jederzeit lustig drehen. Der neue Spielplatz sollte zum 1. Mai 1986 eingeweiht werden. Die Kinder hatten sich schon darauf gefreut. Heute sind ihre Bilder im Tschernobylmuseum in Kiew ausgestellt. Der Größte Anzunehmende Unfall (GAU) hat Pripjat so sehr verstrahlt, dass die Stadt noch heute in der Sperrzone 1 liegt. Nicht einmal die Vögel sind zurückgekehrt. Das Summen des Atomreaktors ist das einzige Geräusch in Pripjat.

Maria Petrowna Schowkuta freut sich immer über Besuch. Die kleine, drahtige Bäuerin lebt seit 1987 wieder in Opatitschi, einem Dorf, das in Sperrzone 3 liegt und nach dem Unfall 1986 vollständig evakuiert wurde. „In ein Hochhaus in Kiew haben sie mich eingepfercht. Zusammen mit drei anderen Frauen, die ich nicht einmal kannte. Wir hatten eine Küche, aber keine Möbel, nur jede ein Sofa. Das Zimmer war nur neun Quadratmeter groß.“ Die 73-Jährige zupft ihr Kopftuch zurecht und rückt näher an den Holzofen heran, der wohlige Wärme verbreitet. „Da sind wir nach dem Winter zurückgekommen, um ein paar Sachen zu holen. Na, und da bin ich dann geblieben.“ Sie grinst: „Und ich lebe immer noch – sehr zum Ärger der Medizin.“

Maria Schowkuta war die Erste, die trotz Verbots in die verstrahlte Zone zurückkehrte. Am Anfang sei die Polizei oft vorbeigekommen, Hubschrauber kreisten über dem Dorf. Aber sie ließ sich nicht vertreiben. „In Kiew konnte ich doch von meiner Kolchosenrente nicht leben. Da musste ich in den Mülltonnen nach etwas Essbarem suchen.“ Aber hier, hier sei alles anders: „Hier habe ich Kartoffeln angebaut, Mohrrüben und Tomaten. Ich habe jetzt auch wieder Hühner und sogar Schweine.“ Am Anfang seien ständig Leute vorbeigekommen und hätten erklärt, dass das alles verstrahlt sei, dass sie das nicht essen solle, aber irgendwann hätten sie sie und die anderen alten Bauern in Ruhe gelassen. Zwei Mal die Woche versorgt ein „Laden auf Rädern“ die offiziell unbewohnten Dörfer. Allerdings fährt der Bus nicht mehr. „Wie soll ich jetzt zum Arzt kommen?“, schimpft sie. Warum sie hier ist? Maria Schowkuta legt die Hände in den Schoß: „Ich bin hier glücklich. Was soll ich in Kiew? Ich will hier sterben. So wie die anderen Bauern hier sterben. Und eines Tages ist unser Dorf Opatitschi tot. So ist das.“

Anders als in den Dörfern rund um Tschernobyl, in denen nur alte Menschen wohnen, ist Slawutitsch eine junge Stadt. Das Durchschnittsalter liegt bei 28 Jahren, gut ein Drittel der Bewohner sind Kinder und Jugendliche. Als Victor Odizina, der in Kiew Psychologie studiert hat, die Stelle im Sozial-Psycholgischen Zentrum von Slawutitsch annahm, war er überzeugt, dass er es nun vor allem mit dem „Tschernobyl-Syndrom“ zu tun bekommen würde. Doch weit gefehlt. „Hier hat überhaupt niemand Angst vor einem erneuten Gau oder vor der Strahlenbelastung. Die Slawutitscher verdrängen das, wollen nichts davon hören, und das ist auch ganz klar – immerhin arbeiten sie jeden Tag in Tschernobyl. Hätten sie Angst vor den Strahlen oder vor einem Unfall, könnten sie das gar nicht.“

Während in den Gegenden, die 1986 von dem Fallout nicht oder nur wenig betroffen waren, alle die Schließung des maroden Reaktors herbeisehnten, fürchte man hier nichts so sehr wie genau das. Die meisten verdienten in Tschernobyl sehr gut, diesen Lebensstandard könnten sie kaum sonst in der Ukraine halten, sagt Victor Odizina. „Mir selbst geht es ja auch so“, bekennt er. „Meine Frau arbeitet in Tschernobyl, ich hier. Ich komme vom Dorf, meine Eltern haben noch nie in ihrem Leben ein Konzert gehört, meine Kinder aber können in Slawutitsch Konzerte hören, soviel sie wollen, sie können ins Theater gehen, jeden nur erdenklichen Sport treiben.

Niemand von uns will weg, nur weil die Strahlenbelastung zu hoch ist.“

Michail Dorum stapft über den Friedhof von Slawutitsch. Er kommt oft hierher. „Inzwischen liegen fast alle meine früheren Kollegen hier, die Freunde auch, der Friedhof wächst schnell.“ Über die Hälfte der Grabmäler sind aus hellem Metall. Dort liegen ehemalige Tschernobyl-Mitarbeiter. „Das Atomkraftwerk kommt für die Kosten auf. Immerhin“, sagt Dorum. Älter als 50 Jahre ist in Slawutitsch kaum jemand geworden. „Das ist eine schöne Stadt“, sagt Dorum, „hier muss man nur ein bisschen schneller leben“.