Kunst mit doppeltem Gesicht

Bei Tillmans ist die Intervention des Künstlers wichtiger als die Makellosigkeit der Kunst – bis hin zu Fehlprints

von ULF ERDMANN ZIEGLER

Etwas überrascht war die deutsche Fernsehgemeinde vielleicht doch, wie das alles zusammenkam: Da hatte ein deutscher Fotograf, von dem man noch nie etwas gehört hat, in England einen Preis bekommen, dessen altehrwürdige Existenz einem völlig neu war, und das Ganze wirkte so schillernd und mächtig, dass ein gewisses Glücksgefühl nicht völlig zu unterdrücken war. Für die Parteigänger und Partisanen des Kunstbetriebs las sich die Sache gewiss etwas anders. Gleich am nächsten Morgen jubelte der Kunstfotografiehändler Rudolf Kicken im Feuilleton der Welt, nun sei die Vorherrschaft der Becher-Schule vielleicht doch an ihr Ende gekommen. Er sah in der Verleihung des Turner-Preises in England an Wolfgang Tillmans eine Umwertung im nationalen Fundus, die Eröffnung eines neuen Schauplatzes. Glücksfall für das multiplizierende Gewerbe: Statt der deutschen Fotografie gibt es nun viele deutsche Fotografien.

In der Tat eignet sich Tillmans’ Werk wie kein anderes, um erfolgversprechend auf die Vielfalt der Formen und Quellen zu verweisen. Seine Installationen – bilderrahmenlos – stellen große Digitalprints von Stadtlandschaften wie Fahnen aus; Themenfelder stecken Gefühlsnischen ab; und wuchernde Pinnwände rezirkulieren die rege Publizistik des jungen Mannes, der die Lebensstilzeitschriften seit mehr als einer Dekade mit lüsternen Liebespaaren und verrutschten Socken befeuert hat. Die Arbeit dieses Mannes, der als unstudierter Publizist unerschrocken begonnen hat und den Schleusen einer britischen Hochschule später als Künstlerschreck entstiegen ist, setzt auf eine Art Umkehrschluss. Wenn es überall Leute gibt, die mit den verstreuten Bildmotiven einer Arbeit glücklich sind, muss der Wind auf allen Kanälen doch zu verkehren sein in eine Rückkehr zu komplexen Arrangements.

Während andere noch grübeln, wie der vertrackten Forderung des modernen Kulturbetriebs nach einem Werk-im-Fluss kreativ zu entsprechen sei, hat Tillmans den Fluxus seiner Arbeit zum Stilprinzip verklären lassen.

Die Schüler Bernd Bechers, der an der Kunstakademie Düsseldorf von 1976 bis 1996 gelehrt hat, stellen stilistisch das Gegenteil dar. Dies ist unter den Maximen der Beschreibungsnot allerdings praktisch. Erhabene Ansichten globaler Schauplätze, hochgezogen auf malerische Formate, in edlen Hölzern gerahmt und unter Glas versiegelt – genauso haben sich die Museumsdirektoren den Durchmarsch der fotografischen Kunst vorgestellt, so fand er statt. Also haben wir in den Protagonisten Gursky, Hütte und Struth das Meisterwerk wiederbelebt, während Tillmans für das Störmanöver steht.

Aus der Sicht weniger etablierter Fotografen, die ihre Bilder schon gefunden haben, aber mit ihrer Präsentation hadern, mag das Schema als brutale Verengung einer Wahl erscheinen: Während der Club Gursky zweifelsfrei dafür steht, dass ein Erfolg als Künstler nur unter Ausschluss jeglicher kommerzieller Anwendung (von Fotografie) zu haben sei, repräsentiert Wolfgang Tillmans das dreiste Gegenteil. Aus seiner Sicht ist jede Vermischung – das berühmte Cross-over – erlaubt, vorausgesetzt, dass man die Produktionsvorgabe eines jeden Auftrags diktiert. It’s magic: Was dem Fotografen verwehrt ist, ist dem Fotokünstler Minimum!

Diese krasse Alternative stellt allerdings eine verengte Sicht dar oder, anders gesagt, ein nur-deutsches Dilemma. International gesehen sind es eindeutig Bernd und Hilla Becher, die die Speerspitze der deutschen Kunstfotografie anführen, und Wolfgang Tillmans’ Durchmarsch in England – als Deutscher – ist selbstverständlich gedeckt durch die Reputation zeitgenössischer deutscher Fotografie, deren Nachkriegsfundament die Bechers im Alleingang gelegt und gegen die geschmäcklerische „subjektive Fotografie“ der fünfziger und sechziger Jahre durchgesetzt haben.

Sieht man sich das Werk der Bechers etwas genauer an, stellt man fest, dass ihre „Typologien“ von Fördertürmen, Hallen, Aufbereitungsanlagen und Hochöfen aus einem Fundus geschöpft sind, der für neue Zwecke neu kombiniert wird. Die argumentative Kraft ihrer Tableaus liegt darin, dass sie verblüffend ähnliche Objekte in intensiver Form abgleichen; auch hier eignet sich Tillmans als Gegenbeispiel und Gegenspieler, weil er im Prinzip unvergleichliche Dinge vergleicht, wie Früchte und Städte. Was aber beide Werkästhetiken verbindet, ist die Kombination aus Neuem und Gehabtem.

Dass Tillmans dort steht, wo er steht, ist für die deutschen Fotografien – um im Plural des Gewerbes zu bleiben – international gewiss förderlich, aber von einer deutschen Errungenschaft kann gar keine Rede sein. Nur England hat jene geschwinde, geistreiche und, nicht zu vergessen, an der Klassendifferenz geschulte Populärkultur; da ist viel Platz und viel Stoff zwischen den Beats von Brixton und dem Kitsch der Königin. Mode, vor 20 Jahren noch Maßstab der Vollendung, wurde in London als Patchwork der Identitäten wiedergeboren. Die Magazine – i-D, natürlich, allen voran – waren deshalb so wichtig, weil man sich das Patchwork nicht kaufen kann. Es ist im Prinzip eine Phantasie; der Umzug des Stils aus den hochdekorierten Salons in die Ödnis der Vorstadtstraße geht zurück auf die frühen Rolling Stones und wurde seitdem mindestens zweimal aktiviert. In der jüngsten Volte spielte die Fotografie von Tillmans – ihre ethnisch-soziale Zartheit, ihr sexuell ambivalenter Trash – eine gewisse Rolle. Wären die Engländer nicht gleichzeitig Anhänger einer soliden Hochkultur, gäbe es allerdings das englische Wunder nicht, das Tillmans mit seinen 32 Jahren nunmehr darstellt: Seine Belohnung hebt die High/Low-Polarität nicht auf, sondern bestätigt sie. Gegen Tillmans wird bisweilen eingewandt, dass seine Flickwerk-Installationen auf der Stelle träten, dass die Motivwelt fad sei, seine Omnipräsenz auf die Nerven gehe. Entscheidend ist, dass Tillmans seine Ästhetik in flux so elaboriert hat, dass sie als Weichenstellung für andere funktioniert. Bei jeder dritten Entscheidung müssen Künstler/Fotografen sich fragen, ob sie es so wie er machen wollen oder im Gegenteil. Der Wirkungsgrad seiner Intervention ist wichtiger als die Makellosigkeit seiner Kunst. Dass er Fehlprints aus dem Labor als Künstleredition vermarkten lässt, mag keine raumgreifende Idee sein, bestätigt aber seinen Status als Akteur mit abstraktem Potenzial.

Die deutsche Museumskultur hat den Wechsel vom fotografierten Tafelbild hin zu offeneren Bildformen nur zögerlich begleitet. Nun sollte mit der Gründung des Deutschen Centrums für Photographie dieses Jahr in Berlin der Schirm aufgespannt werden. Der erste große Auftritt dieser Institution ist zurzeit eine Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie, bestückt mit den erigierten schwarzweißen Fotografien desinteressiert dreinblickender entkleideter Frauen in hochhackigen Schuhen: Helmut Newton. Das haben wir nun davon, wir Deppen, die wir seit Jahren eine angemessene Repräsentanz von Fotografie in deutschen Museen gefordert haben.

Der Fehler ist nicht, Helmut Newton zu zeigen, sondern ihn so zu zeigen, wie der zynische Greis mit eisernem Kunstwollen es sich wünscht. Newton ist nämlich ein sehr listiger und erfolgreicher Fotograf in den Metiers von Illustration und Mode gewesen, der wie kein anderer mit dem Fetisch gespielt hat, als eine bestimmte Sorte der Warenkritik massiv dazu einlud. Wie man an der großen Werkschau des Architekten Renzo Piano, zuvor am gleichen Ort, gut erkennen konnte, muss der Gegenstand eines Kunstmuseums nicht unbedingt die Kunst sein; manchmal reicht die konzentrierte Einsicht in die vielen Fächer einer gestalterischen Arbeit. Dass die Fotografie ein doppeltes Gesicht hat, muss zu ihren Gunsten nicht verborgen, sondern im Gegenteil sichtbar gemacht werden. Verwirrenderweise ist das die künstlerische Lektion von Tillmans: Der Kunststatus muss täglich verteidigt werden. Er haftet der Fotografie nicht an wie eine Tätowierung.

Deutsch an Tillmans’ Fotografie ist allein die Libertinage und ihre Öffentlichkeit. Wer in die allgegenwärtige Museumsbuchhandlung tritt, findet am Postkartenstand das „AA Breakfast“, die Fotografie eines Flugzeugfrühstücks, die vielen künstlich schimmernden Accessoires, und aus der weißen Jeans des Fluggastes schaut ein übernächtigter Penis. Ikonographisch ist die Sache leicht zurückzuverfolgen: Es ist Tillmans’ Antwort auf den „Man in Polyester Suit“ von Robert Mapplethorpe, wo das leicht angesteifte Signifying eingereiht wird in die sozialen und ethnischen Querelen Nordamerikas. Unser Frühstück bei den American Airlines fällt vergleichsweise harmlos aus: Was auf den Tisch kommt, wird gegessen – kulturell gesehen. Die Abwesenheit des Skandals wird offensichtlich zu unserem Nationalcharakter.

Die Verleihung des Turner-Preises an Tillmans mag sensationelle Züge haben, aber wichtiger wäre die Frage, ob die deutsche Öffentlichkeit die Neugier aufbringt, sich der fotografischen Produktion bewusst zu werden, die sich hier entfaltet hat. Es hat sich ein Genre herausgebildet, das zwischen Dokumentation und Kunst angesiedelt ist; die Frauen-Porträts von Jitka Hanzlová (Deichtorhallen Hamburg, bis 4. 2. 2001) als Beispiel. Ebenfalls in Hamburg hat sich ein neuer Verlag etabliert, Kruse, der sich ausschließlich mit eigenständiger Fotografie – Fotografie jenseits von Werbung und Reportage – beschäftigt. In Köln agiert seit einiger Zeit die Fachbuchhandlung von Markus Schaden, eine Börse von Neuigkeiten mit soliden historischen Wurzeln. Deutsche Fotografie ist im Moment wie dänischer Film; auch der zweite und dritte Blick können lohnend sein. Anders als dort gilt hier: kein Dogma.

Der Autor ist Kurator der Ausstellung „Die Welt als Ganzes – Fotografie aus Deutschland nach 1989“, die junge Fotografen zeigt. Der Katalog, herausgegeben vom Institut für Auslandsbeziehungen, ist beim Hatje Cantz Verlag erschienen