Zum Nachtisch flüssigen Sex

Der berlinisch-britische Weinautor Stuart Pigott über Glanz und Elend der drei deutschen Neuzüchtungen Huxelrebe, Scheurebe und Rieslaner: „Sage bloß keiner, diese Dessertweine seien nur für alte Tanten, Spießer und Lahmärsche da“

„Neuzüchtung“. Das Wort hat einen unappetitlich technischen, wissenschaftlichen Klang. Es könnte etwas mit Massentierhaltung zu tun haben, durch die wegen immer niedrigerer Preise unser Fleischkonsum enorm gestiegen und die Qualität des von uns verzehrten Fleisches katastrophal gesunken ist. In der Tat geht es hier um das entsprechende Pendant in der Weinwelt, nämlich die Bezeichnung für die neuen Rebsorten, die eine wesentliche Rolle bei der Ausdehnung der deutschen Weinwirtschaft in den 60er- und 70er-Jahren gespielt haben.

Es war die Zeit des Süßweinbooms, als aromatische Weißweine in Mode waren, die mit ihrer Süße die großen Riesling-Spätlesen und -Auslesen nachäfften, auf denen Deutschlands Ruf als Erzeuger von Qualitätsweinen über zwei Jahrhunderte lang beruht hatte. Das Weingesetz von 1971, ein politisches Instrument der deutschen Weinverbände, war ein Freibrief, die Weine aus den neuen Rebsorten ebenfalls als Spät- oder Auslese zu vermarkten. Infolgedessen sind die Regale der deutschen Supermärkte bis zum heutigen Tag voll von Spätlesen und Auslesen aus Neuzüchtungen (meist ohne Angabe der Rebsorte auf dem Etikett) für weniger als fünf Mark pro Flasche. Die Neuzüchtungen haben nicht nur einen großen Weinstil durch kitischige Nachahmungen seiner Würde und Grundlage beraubt, sie haben den großen Kellereien auch ermöglicht, jene Begriffe auszuschlachten, die bei Weinliebhabern in aller Welt einst als zuverlässiger Hinweis auf Qualität galten. So viel Intrige und Mordgier – wäre es nicht derart deutsch, würde ich es als griechische Tragödie bezeichnen.

Nach diesem reißerischen Exkurs stellt sich die berechtigte Frage, weshalb um alles in der Welt wir diesen Rebsorten ein ganzes Kapitel widmen. Sind wir verrückt? Nein! Die Wahrheit lautet, dass die Familie der Neuzüchtungen extrem verschiedenartig ist: Manche Mitglieder stellen den Gipfel der Kulturlosigkeit dar, während andere unter den richtigen Händen zu wahrer Größe fähig sind. Das gilt besonders für die Dessertweine, wo aus Scheurebe, Huxelrebe und Rieslaner Weine entstehen können, die neben den besten Sauternes oder den größten Riesling-Beerenauslesen und -Trockenbeerenauslesen bestehen.

Diese Tatsache wäre längst einem breiten Publikum bewusst, würden nicht genau dieselben Sorten am falschen Standort, in den falschen Händen scheußliche Weine ergeben. Eine Scheurebe aus unreifen Trauben riecht nach Katzenpipi, eine Eigenart, zu der bei einer minderwertigen Huxelrebe eine schneidende Säure hinzukommt, die nur noch von einem schlechten Rieslaner über- bzw. untertroffen werden kann – alles wohl kaum Eigenschaften, die zur Beliebtheit dieser Sorten beitragen. Leichte Kabinettweine aus gleich welchem Mitglied dieses Trios sind selbst von einem begabten Winzer nur selten als gelungen zu bezeichnen. Üblicherweise fängt das Vergnügen beim Spätlese-Niveau an, wenn die Weine mit etwas natürlicher Restsüße ausgebaut sind. Nun gehört dieser Weinstil nicht gerade zu den gefragtesten, was sicher auch damit zu tun hat, dass Dessertweine als besondere Kategorie gelten, nämlich als schwere und anstrengende Weine, von denen man nur ein kleines Glas entweder am Anfang oder Ende eines guten Mahls vertragen kann. Der gezwungenermaßen hohe Preis für gute Dessertweine bekräftigt dieses Vorurteil nur noch.

Dies ist der Moment für den großen Auftritt unserer drei Helden. Sie sind nicht nur erschwinglich genug, um in normalen Mengen genossen zu werden, auch ihr klarer, erfrischender Stil erlaubt es, mehrere Gläser nacheinander zu trinken. Die Säure, die einem bei schlechten Beispielen von Huxelrebe oder Rieslaner den Spaß verdirbt, und die übertriebene Würzigkeit drittklassiger Scheureben vereinen sich hier zu einer großartigen Lebendigkeit, vorausgesetzt, es sind genügend andere Bestandteile vorhanden, um ein Gegengewicht zu bilden. Im Idealfall kraftvoll und muskulös und dabei schlank und elegant wie ein vollblütiges Rennpferd, lassen diese Weine die oft korpulenteren Dessertweine, die so viele Trophäen gewinnen, gleich vom Start weg durch ihre Leichtfüßigkeit hinter sich.

Jede dieser Sorten besitzt einen eigenständigen Charakter, den genauer kennen zu lernen sich lohnt, weil sich dadurch unterschiedlichste kulinarische Möglichkeiten eröffnen. Die Scheurebe neigt zu Weinen von cremiger Fülle und üppigen, an Grapefruit und andere exotische Früchte erinnernden Aromen, die ungemein verführerisch sind. Trotz aller Opulenz sind sie jedoch nie klotzig oder aufdringlich. Die Pfalz, die Ortenau in Baden sowie Franken waren lange Zeit zuverlässige Quellen für Weine dieser Art, doch aus unverständlichen Gründen scheinen sich hier immer weniger Winzer mit dieser launischen Sorte abzugeben. Zurzeit kommen die besten Scheurebe-Weine aus der Gegend um den Neusiedler See in Österreich, vor allem von Alois Kracher. Wenn der Korken aus einer solche Flasche fliegt, frage ich mich unwillkürlich, wo denn das Mohnparfait mit Aprikosenkompott bleibt. Doch auch mit Süßigkeiten der extravaganten Art wie geeister Schwarzwälder Kirschtorte schmecken sie himmlisch gut.

Die Huxelrebe ist – nicht nur, weil sie ausschließlich in Deutschland angebaut wird, sondern auch aufgrund ihres spannungsgeladenen Spiels zwischen Säure und reifen Fruchtaromen – ein durch und durch germanischer Wein, zugleich exotisch und würzig, üppig und pikant, eher ein anregender als ein durststillender Wein, ein Wein für von Zitornenaromen bestimmte Desserts, sei es nun eine einfache Lemon Tart oder eine Variation von Blutorangen, wie man sie beim Berliner Starkoch Jürgen Fehrenbach bekommt.

Wenn die Huxelrebe als anregend gelten kann, dann ist der Rieslaner berauschend, ein „Born-to-be-wild“-Wein. Er mag starke Ähnlichkeit mit seinem Verwandten, dem Riesling, aufweisen, doch ist ihm eine Zügellosigkeit eigen, mit der er ohne jeden Respekt durch die Regeln des Anstands stürmt, denen sich der Riesling meist sittsam unterwirft. In einem großen Rieslaner, etwa von Müller-Catoir aus der Pfalz, können die an Aprikosen und Pfirsiche erinnernden Aromen und die Rassigkeit eine solche Intensität erreichen, dass sie die Geschmackspapillen förmlich zu verbrennen scheinen. Üppige, auf Obst basierende Desserts aller Art leuchten im Schein dieses Laserstrahls, doch um ehrlich zu sein: Wenn man auf diese Art von flüssigem Sex steht, wird es einem egal sein, was auf dem Teller ist. Soll noch einer sagen, süße deutsche Weine seien nur etwas für alte Damen, Spießbürger oder Lahmärsche.

STUART PIGOTT

Den Text entnahmen wir – leicht gekürzt – dem wundervollen Kochbuch „Mit einem Schuss Wein“ von Cornelius und Fabian Lange (Hallwag-Verlag). Von Pigott ist zuletzt, ebenfalls bei Hallwag, das Buch „Blendwerk und Göttertrank“ erschienen, kritische Porträts und Reportagen aus den großen Weingebieten Europas – ein (Weihnachts-) Geschenk für alle Weinnasen.