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: WLADIMIR KAMINER über Rundreisen

Deutschland im Herbst

Je länger ich durch Deutschland toure, um so rätselhafter wird dieses Land. Die Konturen seiner Leitkultur werden durch unzählige Baustellen bestimmt. Alles wird abgerissen und um- oder wieder aufgebaut.

In Kassel musste vor kurzem „Die Treppe ins Nichts“ dran glauben: ein Überbleibsel der letzten documenta. Eigentlich sollte diese Treppe im öffentlichen Raum die grenzenlose Freiheit des menschliches Geistes symbolisieren, doch dann zog das Kunstwerk jeden Abend die sozial Schwachen und Alkoholabhängigen aus Kassel und Umgebung an.

Sie machten es sich auf der Treppe bequem, manchmal fielen auch welche herunter, ins Nichts. Das missfiel der Öffentlichkeit und dem Magistrat, sie ließen das Objekt über Nacht verschwinden. Aber mit einem Kunstwerk darf man so nicht umgehen. Jetzt muss die Stadt fast eine halbe Million Mark Entschädigung an den Künstler zahlen.

In Halle war es ein anderes Objekt, das abgerissen werden soll: die Betonfahne am Hansering, gegenüber dem gerade errichteten Telekom-Gebäude. Die CDU hatte vom Stadtrat den Abriss der sozialistischen Betonfahne gefordert, weil es in Halle, so die CDU, „keinen ideologischen Rahmen mehr für solche Denkmale gibt“.

Die SPD kam mit dem Gegenvorschlag, die Betonfahne neu zu gestalten und in eine Europafahne umzubenennen. Jetzt soll das Volk entscheiden, aber wahrscheinlich wird sie danach abgerissen, weil die Mehrheit der Hallenser sich von dem Denkmal bedroht fühlen.

In Schwerin verlor vermutlich die ganze Stadt ihren ideologischen Rahmen. Deswegen wird Schwerin nun abgerissen. Damit die Touristen aus Westdeutschland, wenn sie dort mal vorbeischauen sollten, sich wohl fühlen.

Doch die Reiselustigen mit den dicken Brieftaschen lassen auf sich warten. Stattdessen stehen überall lästige Kräne herum. „Gehen Sie geradeaus bis zum roten Kran, dann links bis zum gelben und dann wieder links“, so erklärte mir ein Einheimischer den Weg zum Hotel.

In Erfurt haben ein paar Geisteswissenschaftler mit zweieinhalb Brettern eine neue „Krumme Brücke“ über die Gera gebaut und tragen nun gegen eine kleine Aufwandsentschädigung alle reichen Touristen in einem Plastikstuhl zum anderen Ufer. Dort steht die berühmte Barfüßlerkirche. Wo die Gemeinde gerade alle herzlich zu einem Vortrag mit anschließender Diskussion zum Thema „Gott ist tot. Wer wird der Nächste sein?“ einlädt.

Ich wollte da unbedingt hingehen, hatte aber keine Zeit. Man erwartete mich ganz früh in Vellmar. Mit den Worten „Gott sei Dank, dass sie gekommen sind!“, begrüßte mich die freundliche Buchhändlerin am dortigen Bahnhof. „Nicht jeder Schriftsteller aus Berlin schafft es nämlich, bei uns im Vellmar anzukommen. Letztlich hatten wir einen Herr, er weigerte sich den Zug zu verlassen und fuhr mit demselben sofort wieder nach Hause zurück. Und vorige Woche sollte Frau Knauss bei uns lesen. Sie hat ein Buch über die Cousine von Eva Braun geschrieben. Wir haben sie bis zur Buchhandlung gefahren, sie stand schon vor der Tür, plötzlich musste sie sich schrecklich übergeben. Hier sehen sie diese Flecke? Auf dieser Treppe ist es passiert. Ich denke, sie hatte einfach einen bösen Virus mit sich geschleppt. Außerdem ist Eva Braun ein schwieriges Thema. Kein Wunder, dass sie kotzen musste.“

Nach der langen Reise hatte ich die Orientierung verloren. Deswegen fragte ich die Dame, ob ich noch im Osten oder schon im Westen wäre, am nächsten Tag musste ich nämlich weiter nach Dresden. Die beiden Frauen waren erstaunt: „Man merkt wohl die Unterschiede nicht mehr“, meinten sie.

In der Frühe steckte ich schon wieder im Zug. Neben mir saßen zwei Großväter und erzählten sich, in der Nähe von Eisenach sei schon wieder eine Frau von Außerirdischen geschwängert worden. Aber das regionale Fernsehen ignoriere den Vorfall. Überhaupt würden die Medien die wirklichen Probleme der Bürger verachten.

Der Zugschaffner, ein großer Mann mit breiten Schultern, kahlem Kopf und einer Narbe quer durchs Gesicht erinnerte mich stark an den Haupthelden eines alten sowjetischen Knast-Klassikers: „Feuer hinter Gittern“. Ich kann mich noch gut an die Geschichte erinnern, nur den Namen des Schauspielers habe ich vergessen. „Schauen Sie mich nicht so an, junger Mann“, sagte der Zugschaffner plötzlich zu mir, als ich ihm die Fahrkarte hinhielt. „Meine Frisur sagt nichts über meine politischen Überzeugungen aus. Mir wachsen einfach nur keine Haare mehr auf dem Kopf, das ist alles.“ Ich war blamiert. Mit schlechtem Gewissen kuckte ich aus dem Fenster: eine Leere bis zum Horizont. Feuchtes Gras, nackte Bäume und rostige aufeinander gestapelte Röhren rasten vorbei – „Deutschland im Herbst“.