In Reparatur

Am 23. Dezember sind Parlamentswahlen in Serbien. Was erwarten sich Kulturschaffende vom Neubeginn? Szenen aus dem Belgrader Interregnum

von TOM HOLERT

„Milošević ist für meine Arbeit nicht wichtig.“ Zoran Naskovski hebt ein Glas Obstbrand. Lieber spricht der 40-jährige Künstler über sein Video „Red Star“, das im Dezember 1999 erstmals aufgeführt wurde. In Superzeitlupe zeigt es die letzte Minute einer Begegnung zwischen den Chicago Bulls und Utah Jazz vom 14. Juni 1998, in der Michael Jordan einen spielentscheidenden Korb für die Bulls erzielt. Immer wenn der Superstar im Bild ist, wird ein roter Stern eingeblendet. „Michael Jordan ist Gott“, meint Zoran Naskovski, und es klingt ernsthaft.

Naskovski ist eine der interessantesten Figuren der Belgrader Kunstszene. Seine Installationen und Performances behandeln den Zusammenhang von Modernismus und Fetischismus, das Blickregime japanischer Kamikazepiloten oder die Identitätsproduktion postkolonialistischer Künstlerstars wie Shirin Neshat. Er ist in die fragwürdige „After the Wall“-Ausstellung hineinkuratiert worden, beharrt aber darauf, kein „Ostkünstler“ zu sein. „Ich leide nicht unter einer Identitätskrise“, behauptet er, obwohl genau dies die Vertreter des internationalen Kunstbetriebs begeistern würde.

Die Ablehnung solcher Erwartungen hindert Naskovski nicht daran, indirekt mit den westlichen Projektionen zu arbeiten. Seit einiger Zeit beschäftigt sich der langjährige NBA-Fan auch künstlerisch mit Basketball. Er vergleicht die sozialen Funktionen von öffentlichen Basketballplätzen in amerikanischen und serbischen Städten. Eine Analogie, die der balkanisierende Blick gern übersieht. Basketball, nach wie vor sehr populär in Serbien, funktioniert als eine Art Globalisierungsmaschine, die Vorstellungen vom dunkel-mythischen Balkan zerstäubt, auf die man sich im Westen geeinigt hat.

Jelica Radovanović und Dejan Andjelković leben im ehemaligen Industrievorort Kanarevo Brdo, eine halbe Autostunde vom Belgrader Zentrum entfernt. Ein Zimmer ihrer kleinen Wohnung ist mit einem riesigen Pool-Tisch gefüllt. „Wir haben so viel Geld beim Billardspielen ausgegeben, da lohnte es sich irgendwann, einen eigenen Tisch zu besitzen“, sagt das Künstlerpaar.

So wenig wie Zoran Naskovski können die beiden von ihrer Kunst leben, kaum jemand in Belgrad ist dazu in der Lage. Radovanović arbeitet als Kunstlehrerin an einer Schule, Andjelković entwirft Bühnenbilder für ein Theater in der Stadt. Beide sind Anfang vierzig.

Mit subtilen Interventionen im städtischen Raum analysieren Jelica Radovanović und Dejan Andjelković mikrosoziale Mechanismen des Begehrens. Eine letzte verbliebene Funktion der Kunst im Zeitalter von Digitalisierung und Spektakularisierung erkennt Andjelković in ihrem punktuellen Einfluss auf „private Phantasmen“. Als Beitrag zum BELEF-Festival Mitte des Jahres schlugen die beiden vor, auf einen Straßenpoller in der Belgrader Innenstadt eine Kugel zu setzen. Sie hatten beobachtet, wie die Menschen Poller und andere stadtarchitektonische Elemente unwillkürlich berühren, sie zur taktilen Orientierung im urbanen Raum gebrauchen. Die Kugel auf dem Poller wäre durch die anonymen Berührungen langsam poliert worden, bis der Satz „Es gibt keine Unschuld“ zum Vorschein gekommen wäre. Das zuständige Amt verweigerte die Erlaubnis.

„Wir wissen noch nicht, was für ein Subjekt die kommende Gesellschaft haben will“, sagt Andjelković. Vor dem 5. Oktober, dem Tag der so genannten „letzten Revolution“ (Timothy Garton Ash), habe man in einer Gesellschaft der nackten Wahrheit gelebt: „Es herrschte Klarheit: Niemand wollte dich. Jetzt regiert die Illusion, dass alle dich wollen.“ Was hält das Künstlerpaar von der neuen Regierung und ihrer zu erwartenden Kulturpolitik? „Die neue Nomenklatura hat keine Vorstellung von Kultur.“

„Die Ereignisse vom 5. Oktober habe ich mir von hier aus angesehen, auf CNN“, sagt Edi Bon, ein 23-jähriger Astrophysiker und Technoproduzent. Er grinst durch seine Hipster-Hornbrille. „Später sind wir dann auf die Straße hinunter und haben geweint.“ – Wie bitte? „Nein, nicht um Milošević, wie alle dachten. Es war das Tränengas.“

Bon steht mit ein paar Freunden im Ausstellungsraum der Künstlergruppe Remont im zweiten Stock eines postmodernen Mehrzweckbaus am Platz der Republik. Die Performance-Künstlerin Tanja Ostojić zeigt Dokumentationen ihrer Aktionen der letzten Jahre. Während des Nato-Bombardements hatte sich Ostojić, die in Belgrad aufgewachsen ist, aber mittlerweile in Ljubljana lebt, eine Zielscheibe auf den Kopf rasieren lassen. Dafür erntete sie Kritik. Angesichts der Situation im Kosovo lehnten viele Belgrader KünstlerInnen die vom Regime lancierte Opferpropaganda des Zielscheibensymbols ab. Vielleicht auch als Reaktion auf diese Kritik verteilt Ostojić jetzt Postkarten mit undramatischen Landschaftsmotiven aus dem Kosovo. Ein amerikanischer Architekt, eine zufällige E-Mail-Bekanntschaft der Künstlerin, hat die Aufnahmen vor wenigen Monaten gemacht und ihr zugeschickt.

Im Oktober 1999 wurde Remont (= Reparaturwerkstatt) von dreizehn Belgrader KünstlerInnen und einem Kunsthistoriker gegründet. Nach Jahren des Krieges, der Sanktionen, der nationalistischen Propaganda von Regime und Opposition war es an der Zeit, aus der Isolation herauszutreten. Remont startete mit dem Ziel, Kontakte zu KünstlerInnen und Institutionen in anderen Städten Jugoslawiens und im Ausland zu etablieren, aber auch die Kommunikation untereinander zu fördern, eine Zeitschrift zu machen und einen Ausstellungsraum zu eröffnen.

In Belgrad gehört Remont zur großen oppositionellen NGO-Szene. „Non-Profit, das ist die profitabelste Organisationsform“, hört man VertreterInnen der Nichtregierungsorganisationen in Serbien immer wieder sagen. Während sich in Deutschland die Zivilgesellschaft auf Stichworte der Regierung hin formiert („Aufstand der Anständigen“), ist der „Civil Society“-Sektor in Belgrad zur Basis einer Parallelgesellschaft geworden. Der staatlichen Einflusssphäre weitgehend entzogen, wenn auch unter Dauerbeobachtung des Regimes, entstanden seit den späten Achtzigern ökonomische und soziale Schattenstrukturen. Korruption hatte die offiziellen Institutionen funktionsunfähig gemacht, und da ein Markt für Kunst und alternative Kultur in Serbien nicht mehr existierte, wurde die nichtoffizielle Kulturproduktion von ideologisch und ökonomisch interessierten Stiftern des Großkapitals alimentiert. Zwar hält sich bei den Protagonisten der alternativen Kulturorganisationen die Begeisterung über diese Abhängigkeit von Westgeldern in Grenzen. Doch die Kollaboration mit dem Regime kam noch viel weniger in Frage. Genauso skeptisch sind die meisten der neuen Regierung gegenüber. Opposition heißt in der Kulturszene Belgrads zumeist auch Opposition gegen die jetzt an die Macht gelangten oppositionellen Nationalisten.

Nach einem Jahr zählt Remont 55 Mitglieder. Einige, wie Jovan Cekić, haben bereits in den 80er-Jahren der Konzeptkunstgruppe „143“ angehört. Cekić schrieb für das führende Kulturmagazin Moment und war bis 1997 Chefredakteur von New Moment, der wichtigsten Zeitschrift zu Themen der visuellen Kultur im Serbien der 90er-Jahre. Dragan Protić und Djordje Balmazović designen als SKART einen Großteil der alternativen Publikationen in Belgrad, zugleich intervenieren sie als Kommunikationskritiker zu Themen wie Armut und Angst bis hin zu Masturbation. Auch Veteranen der dissidenten Kunst wie die international arrivierten Era D. Milivojević und Rasa Todosijević machen mit.

Westliche Beobachter sollten den nahe liegenden Fehler vermeiden, die serbische Gegenwartskunst als transparentes Medium für authentische politische Erfahrungen zu konstruieren. Dennoch hat man bei der Begegnung mit der zeitgenössischen Kunst in Belgrad sofort den Eindruck, als wären die Arbeiten in weit höherem Grad an politischen Parametern ausgerichtet, als dies derzeit in den westlichen Kunstmetropolen der Fall ist. „Es gibt diesen geradezu traumatisierenden Anspruch an die hiesigen Künstler, politisch zu sein“, meint Vladimir Tupanjac, der an einem Projekt über serbische street art des vergangenen Jahrzehnts arbeitet.

Obwohl oft beschrieben wurde, wie der „Zusammenbruch der Wirklichkeit“ durch Krieg, Embargo, alltägliche Gewalt und Korruption eskapistische Strategien förderte, ist der Imperativ des Politischen aus der Kulturproduktion nicht wegzudenken. Die interessantere Kunst in Serbien tut alles, um die formalistischen Abgründe der alten offiziellen Kunst zu vermeiden. Diese schenkte ideologischen „Trost in der sozialen und politischen Krise“ und diente „als Maske für die traumatischen politischen Identifizierungen und Beziehungen“, wie Branislava Andjelković und Branislav Dimitrijević schreiben. Diese Illusionen zu destabilisieren, charakterisiert die Politik der oppositionellen serbischen Kultur im Allgemeinen.

Tupanjac, Andjelković und Dimitrijević arbeiten beim Centre for Contemporary Arts (CCAB), seit Mitte der 90er-Jahre wichtigste NGO für Gegenwartskunst und Kulturwissenschaften in Belgrad. Kunsttheorie ist hier immer auch kulturpolitisch motiviert. Ende November richtete das Zentrum eine große Konferenz zur Kulturpolitik in Jugoslawien aus. Zweihundert VertreterInnen aller kulturell relevanten Gruppierungen, von B 92 bis zur StudentInnenorganisation Otpor und zum alternativen akademischen Netzwerk, kamen. Es galt, im so genannten Interregnum zwischen dem 5. Oktober und den serbischen Parlamentswahlen am 23. Dezember Minimalforderungen an die künftige Regierung zu richten: nach Transparenz bei der Neubesetzung der kulturellen Posten ebenso wie nach einem kulturpolitischen Grundsatzpapier der Verantwortlichen. Der Erfolg dieser Appelle ist abzuwarten. Und dies nicht nur, weil im Nebensaal des Sava-Kongresszentrums die Deputierten der SPS tagten und Slobodan Milošević zu ihrem neuen Vorsitzenden kürten.

Die Akademie der Künste Berlin hat das Dossier „Serbien. Einschätzung der Wirklichkeit“ veröffentlicht. Lesenswert ist zudem „Belgrad Interviews. Gespräche und Texte von Katja Diefenbach und Katja Eydel“ (b-books, Berlin, 2000).