Im Geist von Gustav und den Großeltern

Wer ruft schon einen Taxifahrer, um sich die Koffer hochtragen zu lassen? Die Geschichte eines ungewöhnlichen Auftrags

Bahnhof Wannsee, um 20 Uhr, eine trostlose, aus der Gegenwart gefallene Gegend. Vor der muffigen Imbissbude trinken zwei Männer trotz Kälte das Bier im Freien. Auf einer Tafel steht „Gustav-Hartmann-Platz“. Beruflich gesehen ist das ein historischer Ort. Hier hatte der Eiserne Gustav, der letzte Berliner Pferdedroschkenkutscher, seinen Standplatz. Hier brach er 1928 zu seiner legendären Reise nach Paris auf, die gleichzeitig romantischer Abschied vom Pferdeverkehrswesen wie völkerverständigender Volksheroenritt war. Zum ersten Mal habe ich vom Eisernen Gustav durch meinen Opa erfahren. Max Schmeling, der Alte Fritz und der Eiserne Gustav, das waren seine deutschen Helden.

Ich weiß nicht mehr, was mein Opa sagte, als ich Taxifahrer wurde, aber als er selbst nicht mehr so gut Auto fahren konnte, durfte ich meine Großeltern im maisgelben 123er Daimler kutschieren, dem ganzen Stolz meines Opas. Wie der Eiserne Gustav war er ein Dickschädel. Lange Zeit bestand er darauf, an Weihnachten, solange es noch hell war, die Hinstrecke zu seiner Tochter, wo die Feier stattfand, selbst hinterm Steuer zu sitzen. Nachts fuhr ich dann die Großeltern im Daimler zurück. Mein Opa konnte sich vor Müdigkeit kaum aufrecht halten. Mein Vater folgte mit seinem Auto, um mich bei den Großeltern wieder aufzulesen.

Das alles geht mir durch den Kopf, als ich diesen merkwürdigen Sonderauftrag bekomme: Koffer aus einem Auto ins Haus tragen. Ein lächerlicher Auftrag, für den ich mich normalerweise gar nicht in Bewegung setzen würde. Weil ich gerade erst als am Halteplatz angekommen bin, nehme ich dennoch an. Wer ruft schon einen Taxifahrer, um sich Koffer tragen zu lassen? Jemand mit dem Mut der Verzweiflung. Ich stelle mir ein Großelternpärchen vor: Er, so ein Dickschädel wie mein Opa, der kaum noch gerade laufen kann, aber unbedingt ein Auto führen will. Sie, seine treue, zickige und noch klapprigere Frau. Ich seh die Alten schon, wie sie mir einen Fünfer in die Hand drücken und das für großzügig halten.

Aber es gibt keine angemessene Entlohnung für so einen Auftrag. NUR um Koffer reinzutragen, mit dem Taxi aufzukreuzen, das ist absurd. Ich beschließe, die Bezahlung nicht wichtig zu nehmen. Das soll meine gute Tat für heute sein. Ein ehrenhafter Dienst im Gedenken an meine Großeltern und den Eisernen Gustav. So bin ich ein wenig überrascht, als ich eine in mondänem Chic gekleidete Frau stehen sehe. Klar, eine Frau. Lässig frage ich aus dem Fenster, ob sie einen Taxifahrer bestellt hat. Sie nickt nur.

Ich stelle den Wagen ab, steige gemächlich aus, vielleicht so wie ein betagter Sheriff, etwas ächzend, um der Lady mal unter die Arme zu greifen. „Sie sind also die Frau, die niemanden hat, der ihr die Koffer reinträgt“, sage ich in scherzhaftem Good-old-Boy-Ton. Sie antwortet mit der Brutalität einer in Bitternis ergrauten Gouvernante: „Dafür sind SIE ja zuständig.“

Mir stockt für einen Moment der Atem. Der Kofferraum ihres Kugelautos steht offen. Sie deutet auf einen Koffer und befiehlt: „Zunächst diesen hier.“ Ich bin stehen geblieben. Es ist eine friedliche kleine Straße. Viel Laub liegt auf dem Kopfsteinpflaster. Es gefällt mir, wie sie ohnmächtig herrschend dort steht, in einer albernen Pelzjacke, und erwartet, dass ich ihren Scheißkoffer aus dem Auto hole.

„Unter diesen Umständen“, sage ich höflich „kann ich Ihnen leider nicht helfen.“ Sie fängt augenblicklich zu zetern an. Ich verstehe ihre Worte nicht und versenke mich in eine schemenhafte Erinnerung: eine Werbung auf einem Kleinbus, den ich heute morgen vorbeifahren sah – „Malermeister EKMEN – für eine bunte Hauptstadt“. Ich sehe viele vor sich hin pfeifende Ekmens, die unbekümmert alle weißen Flächen dieser Stadt gelb und blau anstreichen, und höre erst ihren letzten Satz wieder: „Ich werde mich beschweren.“

Lächelnd gebe ich ihr meine Nummer. Es sind drei schwere schwarze, hässliche Schalenkoffer. Sie wird wohl fluchen und sich einen blutigen Fingernagel reißen. FELIX HERBST