Im Reich der Scheintoten

Thomas Demand baut für seine Fotos täuschend echte Modelle aus Papier nach. So entstehen abstrakte Settings und aufgeladene Kulissen – von Barschels Badewanne bis zu Lembkes Ratestudio. Jetzt sind seine Arbeiten in Paris zu sehen

von ELENA SOROKINA

Im Pariser Centre Pompidou ist die zeitgenössische Kunst zur Zeit sehr unterhaltsam. Bei „Au-dela du spectacle“ brummt, spricht, schreit oder quietscht sie wie Picachu. In der Fondation Cartier strahlt sie dagegen edle Ruhe und Distanz aus. Es liegt an den Fotos von Thomas Demand, der seine Arbeiten in der Hochburg des zeitgenössischen Mäzenatentums in Paris zeigt.

Demands Bilder, die nach echten Aufnahmen aussehen, beruhen auf Simulation. Nach Fotovorlagen bastelt der in Berlin lebende Künstler perfekte Innenräume aus Papier. Diese Kulissenwelt wird dann wieder fotografiert und mit bekannten Geschichten verbunden. Sein Werk „Studio“ zum Beispiel, das der Fondation Cartier gehört und in der Ausstellung zu sehen ist, beherbergt eine solche Geschichte. Das Foto zeigt nichts weiter als einen frontal stehenden Tisch mit vier Stühlen vor einem farbigen Hintergrund. Der deutsche Betrachter erkennt darin das Setting für die legendäre Robert-Lembke-Rateshow „Was bin ich?“ – und hat damit Anschluss ans kollektive Bildgedächtnis. Aber auch die Scheune als Atelier von Jackson Pollock, das Badezimmer des „Beau Rivage“ als Ort des Todes von Uwe Barschel liefern genug visuellen Stoff für kunstkritische Auseinandersetzungen.

Als perfekter Europäer hat der gebürtige Münchener Demand stets einen guten Draht zu den entsprechend wichtigsten Metropolen gesucht: Nach seinem Kunststudium verbrachte er ein Jahr in Paris, ging dann zum renommierten Goldsmith College in London und verlegte wenig später seinen Wohnsitz nach Berlin. Den Durchbruch schaffte der „sympathisch menschliche, liebe, brave“ (The Guardian) und laut Eigenaussage „ein bisschen spießige“ Demand aber in New York, als er 1996 in der Galerie Max Protetch ausstellte. Seitdem gehörte er zur jungen und erfolgreichen Berliner Kunstszene: 1999 war er eines der „Children of Berlin“, im selben Jahr hatte er eine Einzelshow in der Londoner Tate Gallery. Woher so viel Ruhm für Fotos banaler Räume, Rasenstücke oder Treppenhäuser?

Demands Werke beschränken sich nicht nur auf das subtile Einbauen bekannter Geschichten in menschenleere Fotos. Sein Verfahren spielt vor allem auf die Medialität unserer Welt an, die umfassend auf eine Verdrängung des Wirklichkeitsverständnisses abzielt. Seit dem Ahnherren der modernen Fotografie, Walker Evans, wissen wir, dass Realität „not totally real“ ist, doch nach wie vor herrscht ein naiver Glaube an die Wahrheit der Bilder. Zugleich wurde ihnen seit den Anfängen der Kunst eine täuschende, aber auch eine aufklärerische Wirkung zugeschrieben. Demand macht beides. Er täuscht, um aufzuklären. „Es gibt inzwischen mehr Bilder der Realität als Realität selbst“, sagt er. Auf den ersten Blick sehen seine Tische, Fenster, Scheunen echt aus. Als Demand seine „Ecke“ in einer Galerie ausnahmsweise nicht als Foto, sondern „live“ ausstellte, hat sich Charles Ray einfach auf das Objekt aus Papier draufgesetzt. Offenbar braucht es einen zweiten, aufmerksameren Blick: Wie steht es um die Wirklichkeit der Bilder im Zeitalter ihrer digitalen Verarbeitung?, fragt Demand. Wie viele Wirklichkeiten beherbergen die Bilder von Demand?, interessieren sich die Kritiker.

Die Einordnung seiner Werke ist nicht unproblematisch. Ist ein Foto des menschenleeren Zimmers von Bill Gates ein Stillleben oder ein Historienbild? Es kann sogar eine Skulptur sein, denn der Tisch, der dort zu sehen ist, wurde vom Künsler eigenhängig und mit viel Mühe hergestellt. Darüber hinaus scheinen die konzeptuellen Fotoarbeiten von Demand einen klaren Anhaltspunkt für traditionelle kunsttheoretische Reflexionen zu bieten: Zur Ausstellung „Die Großen Illusionen“ im Bonner Kunstmuseum rückte Stefan Gronert die Arbeiten Demands in die Nähe der Platon’schen Ideenlehre.

Die Präsentation in der Fondation Cartier kann diesem hochgeschraubten Diskurs nichts Neues hinzufügen. Dafür setzt sie seine Aufnahmen effektvoll in Szene. Die Idee der Hängung stammt vom englischen Architektenbüro Caruso/ St. John, mit dem Demand seit einigen Jahren zusammenarbeitet. Entscheidend ist aber die radikale Transparenz des Ausstellungsgebäudes von Jean Nouvel: Parallel aufgebaute Wände, auf denen die Bilder hängen, lassen den Blick des Betrachters bis in den Innengarten auf der anderen Seite des eleganten Gebäudes durchwandern. So entsteht der Eindruck, als befänden sich die Fotos fast in der freien Natur. Daneben sind vor allem die neuen Werke überraschend, bei denen Demand sich mit Bewegung beschäftigt. In einem Video läuft langsam eine Rolltreppe, und für „Tunnel“ zeigt er mit wackelnder Kamera unendliche Wiederholungen der Fahrt durch eine Tunnelröhre. Wie wirklich ist ihre gestellte Wirklichkeit? Auch hier entscheidet die Erinnerung, der Tunnel spielt den tödlichen Unfall von Lady Di noch einmal nach: gestorben auf der Flucht vor den Fotografen.

Bis 28. 1 2001, Fondation Cartier, Paris.