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: Die geplante Willi-Sitte-Ausstellung in Nürnberg muss nachgebessert werden

Wider den Wendehalsaktivismus

Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg plant seit gut zwei Jahren ein Ausstellungsvorhaben mit dem Titel „Willi Sitte – Werke und Dokumente“. Die Eröffnung war für Sommer 2001 vorgesehen. Dazu kommt es definitiv nicht mehr.

Seit dem Ende der DDR gab es zahllose Ausstellungen, die fahrlässig in Reproduktion bekannter Klischees entwickelt wurden, bei denen in erster Linie übermächtige Staatskünstler in die Museen einrückten, als ob nichts geschehen wäre, oder aber, wie in Weimar, zusammengerührt wurde, was nicht zusammengehört. Umso dringlicher hätte bei Sitte eine kritische Tiefenbohrung angestanden. Nach den Verlautbarungen, die von den Kuratoren aus Nürnberg in die Öffentlichkeit sickerten, muss angenommen werden, dass mit dem Wunsch, endlich zur „Normalität“ im Umgang mit einer Spitzenfigur der Künstlernomenklatura in der DDR zu kommen, ein Blindflug gestartet wurde. Es konnte keine andere Entscheidung geben als die des Verwaltungsrates, der kurzerhand die Notbremse zog.

Willi Sitte, 1921 im nordböhmischen Kratzau geboren, war von 1974 bis 1988 Präsident des Verbandes Bildender Künstler. Auf dem „Umbruch“-Kongress, dem X. und tatsächlich letzten „ordentlichen“ Opportunistenauflauf, wurde er 1988 zum „Ehrenpräsident auf Lebenszeit“ gewählt. Sitte ist die wohl biegsamste Korsettstange des „Sozialistischen Realismus“ in der DDR gewesen und ein in jeder Hinsicht stabiler Sachwalter beleidigten kommunistischen Rechthabens auch über deren Ende hinaus. Seit einer umfangreichen Ausstellung im Hamburger Kunstverein 1975 auf dem internationalen Kunstmarkt als lukrative Kapitalanlage mit Exotenbonus gehandelt, wurde Sitte auch für die vom postmodernen Kunstchaos Enttäuschten zum Rettungsanker – hüben wie drüben.

Sittes Kunst in ihrem seit Mitte der 70er-Jahre verprovinzialisierten Realismus mit dem glühenden proletarischen Aufstiegsideal hat sich nicht verändert. Neu ist, dass der stramme kommunistische Edelmensch zum Opfer stilisiert wird, weil der Verwaltungsrat des Nürnberger Museums angeblich die Pläne für die Sitte-Ausstellung zensiert habe. Davon kann jedoch nicht die Rede sein, schließlich soll eine überarbeitete Fassung 2003 stattfinden – nur eben ein bisschen anders, als sich das Archivleiter Claus Pese und Generaldirektor Ulrich Großmann in ihrer grenzenlosen Naivität ausgedacht haben.

Wenn ein Künstler dem Germanischen Nationalmuseum seinen Dokumentennachlass (Briefe, Manuskripte, Tagebücher, Zeitungsartikel) überlässt, dann erwirbt er damit das Recht auf eine Präsentation dieser Materialien, flankiert von seinen Werken. Auch bei Sitte sollte das nicht anders sein. Aber kann ein Künstler wie Sitte allein mit der Engführung auf den von ihm selbst 1993 zur Verfügung gestellten Aktenberg und einen bunten Kranz von Bildwerken präsentiert werden? Muss nicht nach Dokumenten aus anderen Quellen oder nach kritischen Stimmen gefragt werden?

Auf einer Arbeitssitzung am 31. Oktober wurde ein solches Ansinnen, von eingeladenen Fachberatern formuliert, seitens des Museums als „aus Zeitgründen“ nicht realisierbar verworfen. Dabei wäre es wissenschaftliche Pflicht gewesen, den Gegenstand gerade wegen Sittes Status als sturer Künstlerverbandspräsident in drei Wahlperioden, in der DDR-Volkskammer und als ZK-Mitglied im inneren Zirkel des Honecker-Regimes fest etabliert, von allen Seiten auszuleuchten.

An der dem Verwaltungsrat des Germanischen Nationalmuseums Ende Oktober zur Kenntnis gebrachten Autorenliste schieden sich die Geister. Von diesem Zeitpunkt an war klar, dass das in einem Thesenpapier augenwischerisch behauptete Ziel des Projekts, „das Geflecht von Anpassung und Widerstand, von Mithilfe und Ablehnung in einem totalitären System herauszuarbeiten“, mit den zur Debatte stehenden Autoren nie und nimmer hätte erreicht werden können, es sei denn zum Preis einer neuen Runde Wendehalsaktivismus.

Weil Sitte eben keine unbedeutende, ferngesteuerte Normalexistenz im sozialistischen Sonnenstaat war, muss ein gesundes Maß an Skepsis erlaubt sein. Sich lediglich auf die vom Künstler zusammengetragenen Dokumente, seine Bilder und den Kreis ehemaliger Hymnenschreiber zu verlassen, ist keine tragfähige Basis für ein ernstzunehmendes Projekt. Also muss nachgebessert, sollten auch andere, unabhängig forschende Archive konsultiert, ungeliebte Stimmen in die Diskussion einbezogen und die Rekonstruktion von Wirklichkeit im Sinne der Einordnung des Künstlers in das politische System DDR vorangetrieben werden. Warum soll die Ausstellung nicht warten? Der Versuch, Sitte aus der Arena des Ideologiediktats der DDR herauszulösen, ist Geschichtsklitterung. Das Ausfließen seiner ästhetischen Erfahrungen und Projektionen in die DDR-Realität in Verbindung mit Stasi-Kontrolle und Maßregelungspraktiken verbietet ein Sprechen über Malerei mit rein innerkünstlerischer Definition.

Sittes frühes Aufbegehren gegen stalinistischen Dogmatismus und seine ab 1975 vollzogene Verbarrikadierung im Prokrustesbett der Staatsmacht gehören zusammen so wie der Übergang von einer geistigen Verwandtschaft mit Picasso, Leger und Guttuso zum plakativen körperkultigen Knitterstil.

Wenn es signifikant ist, dass die korrumpierte Lebensweise in der DDR Normalität war, dann spricht nichts dagegen, mit Sitte den Anfang zu machen. Doch ohne die Verquickung von illusionistischer Motivation mit totalitärem Politik- und Gesellschaftsverständnis auskunftsfreudig zu entschlüsseln, bleibt ein Projekt dieser Art bloß Seelenpflaster für Nostalgiker. CHRISTOPH TANNERT