Rund um Weihnachten

Der Weihnachtsbraten lagert röstbereit in den Kühlschränken, Plätzchen locken lüstern, und wir sorgen uns um die neuen Pfunde. Dabei bietet die Hauptstadt eine wachsende Infrastruktur für Dicke

Was machen Sie, wenn Sie alle Maße sprengen? Gehen Sie noch ins Kino, oder lassen Sie sich von den schmalen Sesseln schrecken? Besuchen Sie Fitness-Studios? Oder haben Sie gar bei all den Warnungen Angst, Aufzug zu fahren? Und was raten Ihnen Ärzte und Krankenkassen?

Doppelsitze in der Kinos sind eine Rarität

Vom Popkorn bitte die Riesenportion, einen großen Becher Cola, und dann steht man vor dem Dilemma: Die Sitze sind zwar weich und tief, aber viel zu eng. Glücklich, wer die wenigen Doppelsitze erhaschen konnte, wenn das jeweilige Kino denn überhaupt welche hat. Aber: Wer suchet, der findet.

Im Kino eins der Kinowelt in den Spreehöfen sind zwei der Raritäten in der letzten Reihe versteckt. Ebenfalls zwei Doppelsitze hat das Filmtheater am Friedrichshain vorzuweisen, und zwar auf dem Rang. Das Cinestar im Sonycenter hat in jedem Kino gar zehn bis zwölf.

Dafür ist das Sojus Kino-Center im abgelegenen Marzahn geradezu übersät: In den drei Kinos gibt es insgesamt 71 (!) der begehrten Plätze. Und noch eine gute Nachricht dazu: Wer allein dort sitzen will, muss nicht doppelt bezahlen. Im Weihnachtsprogramm läuft dort übrigens unter anderem „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ – für alle, die Letzteren vermissen.

Kontakt: Sojus 0 30-5 42 31 51

Schwofen mit Pfunden in der Dickendisko

Wer mit sich und seinen Pfunden im Reinen ist, geht zur Dicken-disco. Was 1995 als Novität in Deutschland begann, hat sich längst etabliert, Miss-Molly-Wahlen, Dessousvorführungen und Kleiderbörsen für Mollige inklusive. Nur: Nachdem der Dicken-schwof vier Jahre lang im Neuköllner Hotel „Estrel“ stattfand, das sich mittlerweile zm Austragungsort der Bambi-Verleihung und anderer großer Shows gemausert hat, will man dort die kräftigen Tänzerinnen und Tänzer offensichtlich nicht mehr haben. Der Jahresvertrag für die Bar mit Tanzfläche wurde jedenfalls plötzlich nicht mehr verlängert. Die Schreiben an knapp fünfzig andere Hotels brachten einige Absagen, die meisten hielten es nicht für nötig, der Dickendisco auch nur zu antworten. Neuer Austragungsort ist nun die Gaststätte „Zwo Fuffzig“ in der Buschkrugallee 31a in Neukölln. Nächster Termin ist der 27. Januar 2001.

Models in allenGrößen und Breiten

Statt Magersucht und verhärmten Gesichtern gibt es glücklicherweise auch Models, die neben ausgefallener Kleidung auch ihre Pfunde zur Schau tragen. Boutiquebesitzerin Martina Starick hat in ihrer Kartei 14 Frauen „in allen Grössen und Breiten“. Zweimal im Jahr führen die Models zwischen 19 und 65 Jahren vor etwa 500 Frauen auf der Trabrennbahn Mariendorf Mode jenseits von Schlabber-T-Shirts und Leggings vor.

Als Martina Starick, selbst Konfektionsgröße 50, vor neun Jahren ihre Boutique für Mollige, „Baradi“ in der Sonnenallee in Neukölln, eröffnete, war die Konkurrenz noch äußerst gering. Obwohl mittlerweile viele Geschäfte für Dicke dazugekommen sind, kann sie sich über Zulauf nicht beklagen. Denn die 36-Jährige setzt nicht nur auf Mode bis Größe 60 und darüber hinaus, sondern in erster Linie auf „eher ausgefallene“ Kleidung. Jeden zweiten Samstag gibt es zudem Dessous in großen Größen. Im nächsten Jahr wird sie ihr Geschäft erweitern und in die Karl-Marx-Allee umziehen. Baradi-Moden, Sonnenallee 45

Für Männer von Formatin 136 Größen

Schleifen und Krawatten in Überlängen, Slips, Hüte und Smokings in Übergrößen und extra breite Gänge – in der „BETEX GmbH“ in der Martin-Luther-Straße 12 ist man auf starke Männer eingestellt. In den geräumigen Kabinen haben schon die Wildecker Herzbuben und Manfred Krug die Hosen runtergelassen. Das 1974 gegründete Geschäft verkauft Herrenbekleidung in 136 Größen. Ob Überlängen, Zwischengrößen oder Übergewicht – bei einer Auswahl von 999 Größenvarianten werden all die Männer fündig, deren Körper nicht genormt sind. Über zwei Drittel der Kunden sind Übergewichtige, die in normalen Geschäften alt aussehen, wo im Konfektionsbereich bei Größe 58 Schluss mit lustig ist. Der Kundenstamm reicht vom Geschäftsmann bis zum Sozialhilfeempfänger, der sich einen Kostenvoranschlag für eine Hose holt. Denn der größere Stoffverbrauch, eine spezielle Webweise und stabilere Garne treiben den Preis im Vergleich zum Standard um mindestens 20 Prozent in die Höhe. Neben Sportbekleidung, Anzügen, Unterwäsche oder Bademänteln findet der eine oder andere Kunde, der den Laden frustriert betritt, auch Trost, indem er feststellt, es gibt noch Dickere als ihn. BETEX GmbH, Martin-Luther-Straße 12

Fettverdrängung à la Scarlett O’Hara

Ob nach dem Verzehr einer Weihnachtsgans oder einer Schale Müsli: Ein Korsett hilft sowohl, Fettröllchen wegzudrücken als auch Bandscheiben und Wirbelsäule in die richtige Lage zu bringen. Da kennt sich Ursel Rieck aus. Denn sie ist eine der letzten Korsettmacherinnen. Das erste Kleidungsstück, das die 63-Jährige, die 110 Kilogramm wiegt, morgens anzieht, ist: ein Korsett. Denn: „Wenn es drunter nicht stimmt, bringt das beste Kleid nichts.“ Seit 26 Jahren führt sie das von ihren Eltern gegründete Korsettgeschäft in der Charlottenburger Kantstraße. Die couragierte Dame betont jedoch: „Es geht nicht nur um den Halt von Fettmassen. Auch Dünne brauchen das.“ In ihren kleinen Laden kommen deshalb sehr schlanke und sehr dicke Frauen. Und alle werden sie fündig. Körbchengrößen gibt es von A bis J, die Unterbrustweite endet erst bei 130 Zentimetern. Sollte es darübre hinausgehen, sind Sonderanfertigungen sind möglich. Die Kundinnen kommen zum Teil aus Norwegen, Moskau oder Australien angereist, um Schnürmieder à la Scarlett O’Hara oder trägerlose Korseletts mit Strapsen zu kaufen. Korsett Engelke, Kantstraße 109

Klobrillen für Dicke haben einen harten Kern

Um das Wohlverdaute in aller Ruhe und vor allem bequem wieder loswerden zu können, bekommen Übergewichtige eine Klobrille mit speziellem Holzkern. Der Baumarkt (Bauhaus, Herté Holz) bietet den Luxus für 59.90 bzw. 54.70 Mark. Herkömmliche Brillen für das stille Örtchen kosten lediglich 18 bis 40 Mark. Spezielle Sitzmöbel für Dicke gibt es nicht. Einige Hersteller bieten breitere Stühle und Sessel an, die einen verstärkten Federkern haben. Das muss reichen. Auskunft gab: Möbel Kraft, Möbel Toores).

Hoch die Hantel im Zentner-Center

Der Name ist nicht gerade ein Schmeichelei, aber immerhin eindeutig: Das Zentner-Center in Mitte ist Berlins erstes Sportstudio, wo Dünne draußen bleiben müssen. Die Definition für Dick und Dünn liegt dabei ganz im Auge des Betrachters: „Es muss für uns deutlich sichtbar sein, dass Problemzonen vorhanden sind“, erklärt Physiotherapeutin Nicole Luxem die Einschränkung. Um dem Publikum gerecht zu werden, gibt es ein besonderes Fitnessprogramm, bei dem die Betonung auf den zu schonenden Gelenken liegt. Wirbelsäulenentlastungstraining steht auf dem Programm genauso wie Problemzonengymnastik und Body Shape. Natürlich sind auch die Geräte entsprechend ausgestattet, sprich: breitere Liegen, größere Sitze. Wem es bei der kostenlosen Probestunde gefällt, kann beim Silvestermahl nochmal besonders sorglos zuschlagen. Kontakt: Zentner-Center 0 30-20 45 37 18, www.zentner-center.de

Der Aufzug transportiert auch Übergewicht

Das Schild im Fahrstuhl wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. „Tragfähigkeit: 450 kg oder 6 Personen“, steht dort geschrieben – als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Den Betrachter beschleicht ein mulmiges Gefühl: Was passiert, wenn die Benutzer vorschriftswidrig mehr als 75 Kilo wiegen? Nichts, sagen die Experten. Schlimmstenfalls bleibt der Aufzug einfach stehen, verrät Hans Ryser, Sachverständiger für Aufzüge beim TÜV Rheinland/Berlin-Brandenburg. Handelt es sich um einen modernes Modell, verhindert eine eingebaute „Lastwiegeeinrichtung“ schon das Anfahren. Bei älteren Baujahren besteht das Risiko, dass der Antrieb schlapp macht und der Aufzug auf halber Strecken stehen bleibt. Ein Absturz ist aber nicht zu befürchten: Die Seile sind auf 12- bis 14-fache Sicherheit ausgelegt, versichert Ryser. Die Frage ist ohnehin eher theoretischer Natur. Schließlich ist bei Dicken auch die Raumverdrängung größer. Folglich passen gar nicht so viele Übergewichtige in eine Kabine, als dass es zum Ernstfall kommen könnte. www.de.tuv.com

Wenn der Himmel zur Problemzone wird

Am Check-in-Schalter wird oft um jedes Kilo gefeilscht – beim Gepäck. Was aber ist, wenn der Passagier selbst das Freigewicht überschreitet? Air France gibt sich in dieser Frage kompromisslos: Wer mit einem Sitz nicht auskommt, der muss für einen zweiten Platz bezahlen. Die Lufthansa behandelt das Problem nicht mit der Waage, sondern mit einem „gewissen Augenmaß“, versichert ein Sprecher der Frankfurter Konzernzentrale. Nur ein einziger Passagier, ein Sumoringer, habe in den vergangenen zehn Jahren ein zweites Ticket lösen müssen. Die Kulanz des Unternehmens ändert freilich nichts am Kleinformat von Gängen und Toiletten. Im Zweifel rät die Airline den Reisenden zur „Flughöhe Null“ – also zur Bahn. Dass ein Flugzeug wegen übergewichtiger Insassen am Boden bleiben musste, ist aber noch nie passiert. Zwar wird beim zulässigen Gewicht mit nur 75 bis 80 Kilo pro Person kalkuliert. Bevor aber Passagiere aussteigen müssen, lässt die Lufthansa lieber ein paar Frachtstücke am Terminal zurück. www.lufthansa.com

BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA,
RALPH BOLLMANN
und MAJA DREYER