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Sexuelle Rundumerfüllung

Last der Welt, Himmel der Lust: Der amerikanische Musiker R. Kelly ist der erfolgreichste Verkäufer in der Konfektionsabteilung des R ’n’ B. Er selbst aber stilisiert sich am liebsten als getriebener Künstler

von TOBIAS RAPP

Man muss sich R. Kelly als einen Getriebenen vorstellen. Um sieben Uhr abends steht er auf, fährt ins Rockland Studio in Downtown Chicago. Dort bastelt er erst ein bisschen an den Produktionen der vergangenen Nacht herum. Gegen zehn Uhr steigen Kelly und seine Kumpels in ihre Autos und fahren in ein nahe gelegene Sporthalle, die Nacht für Nacht bereitgehalten wird. Dort spielen sie ein paar Basketballspiele. Gegen Mitternacht ist Kelly wieder im Studio. Er macht Sit-ups, stemmt ein paar Hanteln. Weiter geht die Arbeit. Irgendwann bestellt sich Kelly sein Essen, jede Nacht das Gleiche. Um vier Uhr morgens trinkt er einen Starbucks-Kaffee, und dann geht er in die Gesangsbox seines Studios und fängt an zu singen. Gegen acht ist er damit fertig, dann hängt er noch ein bisschen mit seinen Freunden und Freundinnen ab, welche die ganze Zeit auf einem Ledersofa in der Ecke sitzen.

Aus diesen Listening-Partys entstehen oft Freestyle-Sessions, die dann zu neuen Stücke führen. Gegen Mittag legt sich Kelly ins Bett, der Schlüssel zum Schlafzimmer im Studiokomplex hängt an einer Kette um seinen Hals. So geht es seit Jahren – tagein, tagaus, sieben Tage die Woche. Hier sind R. Kellys Alben entstanden, seine Produktionen für Michael Jackson, Aaliyah, Sparkle oder Celine Dion. Mehr als zwanzig Millionen Platten hat Kelly verkauft, ohne dass man groß etwas über ihn wusste. Monat für Monat verließen neue perfekte Soulproduktionen diese Studios, und Monat für Monat rollten Platin-Auszeichnungen wieder zurück. Es ging das Gerücht, er habe die damals noch vierzehnjährige Aaliyah geheiratet, doch niemand wusste Genaues: Es hieß, ihr Vater habe sie nach dem Bekanntwerden der Beziehung aus Kellys Umkreis entfernt. Mehr wusste man nicht; da gab es nur die Partybilder aus den Videoclips. Dass dies die einzigen Partys sind, die er besucht, dass er in seinem Studio lebt und die Matratze im Schlafzimmer seiner Fünf-Millionen-Dollar-Villa noch eingeschweißt ist – all das war unbekannt.

Doch R. Kelly ist unter Druck geraten. Der Status von Soul und R ’n’ B als Konfektionsware für das Innercity-Publikum ist in Gefahr. Seit Produzenten wie Timbaland mit ihren vertrackten Cyberbeats ernst genommen werden und Sänger wie D’Angelo einen politisierten Autorensoul in der Nachfolge von Curtis Mayfield propagieren, reicht es nicht mehr, einfach nur perfekte Tracks auf den Markt zu werfen – der neuen Konkurrenz gilt es entgegenzutreten. Und weil bei R. Kelly alles larger than life sein muss, nennt er sein neues Album modernistisch „TP-2.COM“ – TP für „12 Play“, den Titel seines ersten Albums – und inszeniert sich als Abziehbild des romantischen Künstlers, wie es ihn in der klassischen weiß-europäischen Ausgabe kaum noch gibt.

Ein Besessener, der um Ausdruck ringt, der ständig Musik in seinem Kopf hört und der, um nicht wahnsinnig zu werden, all diese Musik aus sich heraussingen muss. Und wahrscheinlich kommt das dem Bild, was Kelly von sich selbst hat, sehr nahe: Tatsächlich schreibt, arrangiert und produziert er alle Stücke selbst.

Dieses megalomanische Moment, diese Inszenierung des fanatischen Selbermachens geht bis ins Artwork der Platte, wo sich R. Kelly in all die Rollen wirft, die medial für den schwarzen Soul-Übermann vorgesehen sind: Als Männlichkeitsikone mit nacktem Oberkörper und brillantenbesetzten Ketten und Kreuzen vor der Brust, als Prediger, der die Faust ballt und gen Himmel blickt, als Pimp im roten Pelzmantel, als Sportler mit einem Tuch, das um den Kopf gewunden ist, und als Player, der in die Kamera blickt und sich in Schritt greift.

R. Kelly nimmt das Leiden der Welt auf seine Schultern und stöhnt unter der Last. In einem fort arbeitet er an der Perfektion seines Entwurfs. Er hat sich eine genau geplante Welt zusammengebaut, um durch nichts von der Musik abgelenkt zu werden. Er ist jemand, der ständig versucht, die Bilder aus seiner Vergangenheit, alles was ihn quält und verfolgt, zu bannen.

Da gibt es einiges. Kelly ist in der South Side von Chicago aufgewachsen, und als Junge wurde ihm von einem Nachwuchsgangster aus der Nachbarschaft in die Schulter geschossen, weil dieser Kellys Fahrrad haben wollte. Seinen Vater hat er nie kennengelernt, und seine Mutter starb vor einigen Jahren an Krebs.

Doch jenseits aller Ästhetisierung als hardest working man in showbusiness, als getriebener Künstler, der in jeder Nacht Vergessen in der Musik sucht: Die Formel seiner Musik ist die Gleiche geblieben. So sehr er auf der Ebene seines Images in die Offensive geht, „TP-2.COM“ hätte so auch schon vor zwei Jahren erscheinen können. Es geht um Sex und Verlust. Es sind Lieder, die entweder davon handeln, sitzen gelassen worden zu sein und daran selbst schuld zu sein. Wie etwa „I don’t mean it“, wo Kelly detailliert und minutiös aufzählt, was er alles falsch gemacht hat, ein Stück, das er als „I mean it“ gleich noch einmal aufgenommen hat: als Dialog mit seinem Beichtvater.

Oder es geht darum, der tollste Liebhaber auf Erden zu sein. Derjenige, der („one“) an ihr herumknabbert, („two“) ihr zu verstehen gibt, dass es gleich kinky wird, („three“) ihr die Augen verbindet und sie ins Schlafzimmer geleitet. Und das sind nur die ersten drei von zwölf Stufen in den Himmel der sexuellen Rundumerfüllung.

R. Kelly: „TP-2.COM“ (Jive/Zomba)

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