Einstürzende Volksbanken

Im Jahr 2000 wurden Kulturdenkmäler dem Erdboden gleichgemacht, die ersten Festnetzpartys veranstaltet, und der Hinterhof trat aus dem Schatten der Idylle – die taz zieht eine Kulturbilanz

Mit Dynamit

Bauarbeiter sind gerade dabei, die zwei Anbauten des frisch sanierten Gasag-Gebäudes am Reichpietschufer mit einem Kran in Lkw-gerechte Portionen zu zerlegen. Leider verzichtet man hier auf die schöne alte Dynamit-Sprengmethode, die in Berlin eigentlich fast nur noch bei frei stehenden Schornsteinen angewandt wird.

Highlights des Abrissfans sind die kleinen Katatrophen, die der Langzeitbeobachter vorausahnt. So fiel mir eines schönen Sommerabends die doch recht nah an der Straße stattfindende Baggeraktion in der ehemaligen Volksbank-Zentrale am Kaiserdamm auf, als ich vom (hoffentlich bald gekillten) so genannten ZOB zur U-Bahn ging. Hoppla, wenn da man nicht bald ein paar Brocken auf einen Passanten fallen, dachte ich noch. Zwei Tage später wurde die Straße gesperrt und der Abriss unterbrochen. Dass einem in dieser Stadt Balkons oder Stuckteile auf den Kopf fallen können, ist ja normal.

Trauriger Höhepunkt für DDR-Architektur-Fans war 2000 sicher der Ahornblatt-, öhm: -Kahlschlag. Da ich jeden Abriss prinzipiell gut finde, weil es einfach Spaß macht jeden Tag mit dem Rad vorbeizukommen und zu sehen, wie etwas verschwindet, hat diese Aktion mich doch zunächst etwas unsicher gestimmt. Aber wer jetzt das große, schöne Loch sieht und die kleine Imbissbude für die Bauarbeiter, wird sicherlich einsehen, dass dieser harte Schnitt nötig war. Und wer hat bei dem Betonkasten eigentlich je Blätter assoziiert?

Im nächsten Jahr wird die Vernichtung des Rest-Palasthotels sicherlich ein hübscher Anziehungspunkt. Auch der geplante Abriss eines dreieckigen, potthässlichen Hochregallagers im Wedding (nahe Pankstraße) sei empfohlen. Beste Sicht hat man hier vom gerade im Bau befindlichen Nordring. Das Regal wird vorsichtig mit zwei Autokränen und der Flex zerlegt, es besteht nur aus Metallen und Isoplatten. Bei dieser Gelegenheit wird sich der Fan an den mit kindsgroßen Trennscheiben durchgesägten meterdicken Backsteinwänden erfreuen könnten. Das Rot der Steine leuchtet jedesmal wie neu. ANDREAS BECKER

In die Zukunft

Frau H. ist Wahrsagerin und fast eine Nachbarin. Sie hat rot gefärbte Haare, lange Beine, ein Kind und einen Hund. Sie wohnt eine Straße weiter und manchmal stehen wir hintereinander in der Schlange an der Kasse beim Supermarkt. Sie war mir schon aufgefallen, lange bevor ich überhaupt wusste, was für einen Beruf sie hat. Nicht weil sie etwas Magisches ausgestrahlt hätte, sondern wegen der Überzeugungskraft ihrer Durchschnittlichkeit, deren Wirkung auf mich ich mir nie erklären konnte.

Früher hatte Frau H. auch einen Mann, der immer im grünen Parka und mit braunen Cordhosen hier herumlief und aussah wie der Revierförster. Mit dem stritt sie sich manchmal lautstark auf der Straße, nahm dann ihren etwas linkischen Sohn und wechselte die Straßenseite. Eines Tages war er verschwunden, genau wie das Café Möhring an der Ecke, wo er täglich die Zeitungen studierte.

Eines Tages habe ich Frau H. in einer Fernsehtalkshow wiedererkannt, wo sie über ihre prominenten Kunden sprach. Seitdem beobachte ich sie. Oft sehe ich sie aus dem Fenster ihrer Wohnung im ersten Stock auf die Straße gucken. Meistens steht dann ihr Jeep in der Ladezone vor dem Haus und sie hat die Straße im Visier, um frühzeitig den Anmarsch der Politessen mitzukriegen, deren Abschleppaktionen hier berüchtigt sind. „Warum muss sie aus dem Fenster gucken, wenn sie in die Zukunft sehen kann?“, hat mich meine Tochter neulich gefragt und ich wusste keine Antwort.

Natürlich glaube ich nicht ans Wahrsagen, ebenso wenig wie an Horoskope. Deswegen ärgert es mich, wenn ich mich manchmal bei der Frage ertappe, was wohl Frau H. zu meiner Zukunft zu sagen hätte. Vielleicht spreche ich sie mal im Supermarkt an?

ESTHER SLEVOGT

Plug & Play

Auf der Eintrittskarte steht die Telefonnummer, die man sich an die Brust stecken muss, damit die anderen einen anrufen können. Deshalb verwechseln viele Leute Festnetz- mit Single-Partys. Aber es geht nicht darum, jemanden abzuschleppen. Vielmehr sind die Veranstaltungen politisch. Sie richten sich gegen Mobilfunkfreaks und Prepaid-Telefonierer.

Auf einer Leinwand wird gewöhnlich die Folge der Sesamstraße gezeigt, in der drei Monster vor dem Fenster stehen, mit den Köpfen schütteln und das heute fast vergessene Geräusch eines Wählscheibentelefons nachahmen. In einer Ecke üben zwei Direktkommunikation, ohne die Hörer aus der Hand gelegt zu haben. Auf dem Sofa sitzt ein Freund von mir, der ein Telefon besitzt, um das ihn alle beneiden. Es ist ganz weiß und gehörte einmal dem amerikanischen Künstler Edward Kienholz. Auf jeder Festnetzparty ist er der Star. Ein anderer Freund, der an der Bar steht, hat ein altes Wandtelefon mit Gurten versehen, um es auf dem Rücken tragen zu können. Wenn es klingelt, braucht er nur hinter sich zu greifen. Ich habe einen grauen FeAp 61, wie die meisten.

Je mehr Leute zu den Festnetzpartys kommen, desto schwieriger ist es, geeignete Räume zu finden. Die meisten Clubs, wie das „103“ in Mitte, verfügen nur über wenige freie Buchsen, und die leer stehenden Büroräume, in denen es genug Anschlüsse gibt, verbreiten eine dermaßen langweilige Atmosphäre, dass ich manchmal während eines Telefongesprächs abdrifte und einschlafe. So hatte ich neulich einen Traum, wie ihn nur Wählscheibentelefonbenutzer haben können. Ich träumte, dass ich durch meine Wohnung gehe und leise Stimmen höre. Im Traum suchte ich nach diesen Stimmen, lehnte mich an die Wände, legte mich auf den Fußboden, aber dann stellte ich fest, dass die Stimmen aus einem Handy kamen, das auf dem Schreibtisch lag. Das Display zeigte an, dass schon seit Stunden telefoniert wurde, und ich dachte noch: Das Guthaben müsste doch längst verbraucht sein. Ich nahm also das Handy und sagte, was man so sagt in diesen Situationen: Hallo? Die Stimmen verstummten. Ich fragte: Wer ist denn da? Und jemand antwortete: Ed Kienholz. Aber der ist doch tot, sagte ich. Eben, sagte der andere mit englischem Akzent. Dann bin ich aufgewacht. JAN BRANDT

Gestern bleibt

Ich musste weg aus Berlin. Ich gab das Rauchen auf, beendete meine ohnehin längst tote Beziehung und zog in eine andere Stadt. London wäre der Hit gewesen. Na gut, zur Not dann eben Wien. Im Frühjahr verlasse ich also freiwillig Boomtown Berlin in der Hoffnung auf eine bessere Zeit in einer neuen Stadt. Nach ganzen sechs Monaten stehe ich wieder am Ostbahnhof. Geheilt. Sechs Monate, in denen natürlich auch die Macher der „Stadt im Wandel“ unermüdlich weiter daran werkeln konnten, die Neue Mitte auszubauen und Berlin in ein einziges multifunktionales, zu zwei Dritteln leer stehendes Großraumbüro zu verwandeln – inklusive Shopping-Mall, versteht sich. So stehe ich dann also in der schicken Bahnhofsvorhalle und staune über die schöne neue Warenwelt, die da jetzt geboten wird. Der wahre Fortschritt: ein Supermarkt, der täglich, auch am Wochenende, bis 21.00 Uhr geöffnet hat – zu normalen Preisen! In der U-Bahn, den Blick gen Osten gerichtet, muss ich begreifen, dass wohl immer noch wenige Monate Berlin-Abstinenz genügen, um die Stadt nicht mehr wieder zu erkennen.

Zu Hause angekommen, weiß ich dann glücklicherweise doch wieder, wo ich bin: Kreuzberg, Oranienstraße. Wenigstens hier scheint alles beim Alten und die infrastrukturellen Veränderungen äußerst marginal zu sein: Ein neuer Blumenladen begrünt die Ecke Adalbertstraße, am Heinrichplatz hat der doch immer so hübsch dekorierte Herrenaustatter leider dichtgemacht. Dafür kommt „Kreuzburger“ nebenan im futuristischen Milchglasdesign und mit vegetarischem Hot Dog daher. Wie eh und je trifft man sich hier um die Mittagszeit in einem der Cafés am Platz oder einfach auf der Straße, um kurz über das Neueste vom Tage oder auch etwas länger über die gute, alte Zeit zu plaudern, die den meisten Häusern noch in der Fassade eingeschrieben steht. Beim Espresso im Bierhimmel (noch immer 1,50 Mark) verfalle auch ich schließlich der Melancholie des „Das war einmal“. Das war auch schon so vor sechs Monaten. Das bleibt. PAMELA JAHN

Nach der Idylle

In einem gerade erschienen Bildband singt der Verfasser des Einleitungsessays noch einmal das Hohelied des neuen idyllischen Hinterhofs und seiner Architekten: „Es waren insbesondere junge Leute, Obdachlose, Studenten, Künstler“, heißt es in den „Berliner Hoflandschaften“, „die nach der politischen Wende von 1989 leer stehende Gebäude in den alten Stadtteilen Berlins besetzten, auch retteten und mit wenig Geld, aber viel Phantasie wieder Leben in die Hinterhöfe brachten.“

Glücklicherweise war es mir gelungen, Anfang dieses Jahres in ein Haus zu ziehen, in dem kaum junge, vor allem aber keine besonders fantasiebegabten Leute wohnen. Es steht im östlichen Friedrichshain. Schaut man nach hinten heraus, sieht man einen Maschendrahtzahn, kaputte Fahrräder und viele verschiedenfarbige Mülltonnen und Container.

Es ist insbesondere die Männer-WG im vierten Stock des Seitenflügels, die sich aktiv an der Gestaltung des Hinterhofes beteiligt. Im Frühling und Sommer warf man bereits zu Sonnenaufgang leere Wodkaflaschen aus den Fenster und überzog so den öffentlichen Raum im Innern des Wohnquartiers sozusagen symbolisch mit einer widerstandsfähigen Glassplitterschicht. Als es dann zu Auseinandersetzungen innerhalb der Wohngemeinschaft kam, wurde einer der Mitbewohner nicht nur ausgesperrt, sondern bekam auch seine Besitztümer nachgeschmissen. Genau wie die Wodkaflaschen fielen nun mitten in der Nacht unter lautem Geschrei einige Koffer und Plastiktüten mit Wäsche, Kassetten und anderen Dingen in den Hof.

Das Bild der Verwüstung am nächsten Tag war eindrucksvoll. Als dann eines der Kinder der bosnischen Flüchtlingsfamilie aus dem Hinterhaus eine schmuddelige Stofffigur mit Turnschuhen aus einem der Kleiderhaufen zog und mit aufgeregten „Flat Eric“-Rufen seinen Geschwistern zeigte, später aber in einer irgendeiner Ecke des Hofes liegen ließ, wusste ich, dass endlich die Zeit des postidyllischen Hinterhofes angebrochen ist. Wer also im nächsten Jahr Sperrmüll loswerden möchte – die Tür zu meinem Hinterhof steht offen. Das Schloss ist kaputt.

KOLJA MENSING

Mitglied werden!

Vielleicht gibt es diesen Trend ja schon viel, viel länger. Das ist sogar wahrscheinlich. Ich weiß über diesen Trend erst seit diesem Jahr Bescheid. Es ist ein Heimlichkeitstrend. Zumindest in meinen Kreisen. Ein Trend, über den man mit Uneingeweihten nicht gern spricht. Scheinbar eine Peinlichkeit. Oder man fürchtet missverstanden zu werden unter Unwissenden.

Nur unter Eingeweihten gibt es plötzlich kein anderes Thema mehr. Und seit einiger Zeit also, ehrlich gesagt erst, seitdem das fantastische 24-Stunden-Zentrum im Karstadt am Hermannplatz eröffnete, bin ich ein Eingeweihter. Und spreche darüber. Über Fitness-Center. Und plötzlich höre ich von allen Seiten nichts anderes als Berichte von Erlebnisduschen, Laufbändern mit Crosslauf- und Sprint- und Wanderfunktion, Spinning mit Musik, Freiluftfahrradfahren vor motivierenden Schimmwettkampfbildschirmen, Dampfsaunen, Solarien und anderen Lebenserfrischungsgerätschaften. Es machen alle. Wirklich alle.

Ach? Ihnen hat noch niemand davon erzählt? Sie leben in einer Freundschaftsoase der Körperunertüchtigten, glauben Sie? Der rein geistig interessierten? Der frohen Muskelverächter und Kopffetischisten, der Denker, der Sitzer, der Trinker, der Sportfeinde und Fitnessverlacher? Das tun Sie nicht. Treten Sie bei. Werden Sie Mitglied! Stemmen Sie Gewichte! Laufen Sie auf Bändern! Und Ihr Freundeskreis wird Ihnen in neuem Licht erscheinen, ja, Ihr ganzes Leben. Es könnte Ihr Trend 2001 werden.

VOLKER WEIDERMANN

Die taz widmet sich in den kommenden Tagen Rückblicken und Ausblicken. Morgen: das Berliner Sportjahr