Russkij Rock `n` Roll

Mit dem Ende des Sozialismus verlor die alternative Szene in Moskau und St. Petersburg ihren Charme. Aber nur zeitweilig. Heute regen sich die alten Helden wieder: Vom Aufstieg und Fall und Wiederaufstieg des russischen Musik-Underground

Der KGB hätte am liebsten selbst Musik gemacht, aber es mangelte an TalentenAufs Neue entsteht Widerstand – diesmal gegen Kapitalismus und Popkultur

von WLADIMIR KAMINER

Die Stadt St. Petersburg wurde auf Befehl des Zaren Peter des Größten in einem Sumpf erbaut. Peter, ein leidenschaftlicherWissenschaftler, wollte wahrscheinlich prüfen, ob sich die Menschen auch im Sumpf vermehren können. Das Ergebnis war befriedigend: Sie konnten! Alle kamen zwar mit Schnupfen auf die Welt, aber sie überlebten. Stolz ernannte der Zar St. Petersburg zu seiner Hauptstadt. Auf solchen Sümpfen könne man bauen, seufzte er erleichtert.

Die Petersburger vermehrten sich immer weiter, fühlten sich vom Zaren auserwählt und waren deswegen unglaublich eingebildet. Vom Zaren hatten sie die Lust am Experimentieren geerbt. Alles Neue und Unbekannte, alles, was das Leben in Russland beeinflusste, kam stets aus St. Petersburg: ob Mode oder abstrakte Kunst, Tuberkulose oder Revolution, Poesie, Architektur, Drogen, Rock `n` Roll ... Anfang der Achtzigerjahre waren im Leningrader Rockklub über 800 Bands registriert, unter anderem die damaligen Koryphäen der alternativen Musikszene, die heute bereits eine Legende sind: Aquarium, Kino und Zoopark.

Der Klub war eine begehrte Adresse, es war nicht leicht, dort reinzukommen. Im großen Haus an der Rubinsteinstraße wurden Proberäume angeboten, die Klubleitung schickte ihre Bands auf Tournee, organisierte ständig Auftritte und Festivals. Alles natürlich umsonst, weil Geldverdienen in der Szene verboten war.

Natürlich lebte der Leningrader Rockklub unter strenger Beobachtung der Jugendabteilung des KGB, und die Konzerte fanden nicht immer ganz legal statt. Aber trotzdem war die Vielfältigkeit der Rockkultur dort beeindruckend. In Moskau gab es zuerst keine solche Vereinigung, dafür hatten aber unsere Bands eine ganz eigene Ästhetik. Die Leningrader hatten die Quantität, unsere Gemeinde war dafür klein, aber fein.

Das halbe Dutzend Bands, die in Moskau rockten, konnte man nicht mit ihren schnöseligen Kollegen aus dem Rockklub in der Rubinsteinstraße verwechseln. Mamonow zum Beispiel, der Sänger und Begründer von Zwuki Mu, hatte Philologe studiert und war von Beruf Übersetzer skandinavischer Sprachen. Er war Mitte vierzig und sah immer etwas schüchtern aus. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder und einem reichen Erben eines Kremlarztes, der nur ganz schlecht E-Gitarre spielen konnte, gründete er Zwuki Mu und schrieb selbst die Texte:

Ich bin eine stinkende Taube.

Speckig, faul, unsauber

Jeder kann mich besiegen

Dafür kann ich aber flieeegeen!!!

Gleich nach seinem ersten Auftritt im Haus der Architektenwurde er zum Superstar der Moskauer Jugendlichen. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Eine andere Moskauer Band hieß Nikolaus Kopernikus. Juri Orlow war ihr Anführer. Sein Spezialität war es, psychedelische Musik mit offiziöser sowjetischer Poesie zu verknüpfen. Orlow, ein viel versprechenderAbsolvent des Moskauer Konservatoriums, war mitten in seiner großen Karriere ausgestiegen, um sich aufs Glatteis der alternativen Kultur zu begeben.

Für jeden Auftritt stellte er seine Band neu zusammen: Er nahm jeden: die Akkordeoninvaliden von der Straße und Studenten aus dem Konservatorium. Soldaten und Hunde, Priester und Alkoholiker machten bei ihm gern mit. Orlow trug 200 Lenin-Anstecker an seinem Anzug. Bei gutem Wetter fingen die Anstecker die Sonne ein, und Orlows Körper strahlte Licht aus. Er hielt sich für Lenins Nachfolger und erzählte jedesmal der Miliz: Er bringe das Licht des Kommunismus unter die Massen. Die Miliz konnte mit dem Mann nichts anfangen. Licht auszustrahlen war nicht direkt verboten. Außerdem hatte Orlow für alle Fälle immer eine Bescheinigung dabei, in der schwarz auf weiß stand, dass er verrückt sei.

Daneben gab es auch noch andere Musikkollektive, die in Moskau lebten und arbeiteten: Brigade S., Va Bank, Chudo-Yudo. Alle waren mit herausragenden Persönlichkeiten besetzt – schlechte Musiker und schräge Vögel. Aus diesen Bands und ein paar anderen, die später dazukamen, entstand auch in Moskau 1983 ein Rockklub, ähnlich wie bei den Kollegen in Leningrad. Die Jugendabteilung des Moskauer KGB hatte zu diesem Zeitpunkt gelernt, wie man am besten mit der Rockszene umgeht: Man organisiert alles selbst und hat dann alle an einem Ort und ständig im Griff.

In Moskau übertrieben sie aber ein wenig, sie delegierten aus den eigenen Reihen einen Offizier zur Leitung des Rockklubs. Er hatte, bevor er zum KGB kam, eine Musikausbildung am Krupskaja-Kulturinstitut absolviert, und zwar im Fach „Führung einesVolkstanzkollektivs“. Sein Erscheinen im Klub löste zuerst eine große Protestwelle aus, er erwies sich jedoch als ein schlechter Spitzel und ein großartiger Säufer. Der Mann kannte viele Tricks, so konnte er zum Beispiel Wodka aus einem Sieb trinken, ohne einen Tropfen zu verlieren, und so etablierte er sich schnell im neuen Kollektiv. Die Musiker gaben ihm den Spitznamen „Dirigent“. Am liebsten hätte der KGB auch noch selbst Musik gemacht, aber es mangelte ihnen an Talenten.

Zum ersten Moskauer Festival „Rock Richtung Frühling“ kamen viele namhafte Gäste aus Leningrad: Kino, Aquarium, Alisa und die Automatischen Befriediger. Die Räume für diese Maßnahme stellte das Moskauer Öl-Gas-Institut zur Verfügung – eine der unbekanntesten Lehranstalten in der Stadt. Das Institut befand sich dicht an der Stadtgrenze, zwischen einem Wald und einem Güterbahnhof, nur zu Fuß erreichbar und gut zwei Kilometer von der letzten Straßenbahnhaltestelle entfernt. Die KGB-Mitbegründer hatten gehofft, das junge Publikum sei zu faul, um so weit zu laufen.

Es kam aber anders: Über Nacht wurde das Gelände des Öl-Gas-Instituts zum wichtigsten Veranstaltungsort der Stadt. Tausende strömten dorthin. Nur einige hundert durften rein. Die Jugendlichen stürmten das Gebäude aus allen Richtungen, kletterten über den Zaun, stiegen aufs Dach und drangen durch die Fenster ins Haus ein. Zwei Tage dauerte das Programm: Die Automatischen Befriediger hauten auf der Bühne ihre Gitarren kaputt, Kino sang über das glückliche Leben auf einer Mohnplantage, und Alisa versetzte die Mädels in Trance. So etablierte sich Moskau zu einer neuen Rock -`n`-Roll-Adresse in der Sowjetunion. Danach folgten Swerdlowsk,Nowosibirsk, Kiew ...

Auf der Schwelle zur Perestroika wurde der strenge Polizeiblick auf die Jugendkultur etwas lockerer: Die einzige sowjetische Plattenfirma „Aprelewski Sawod Grammplastinok Melodia“ presste ein paar Rolling-Stones- und David-Bowie-Platten, dazu noch einiges von russischen Bands. Und dann ging auf einmal alles sehr schnell. Die Szene verließ ihre gemütlichen Kellerräume – und trat in den großen Stadien auf. Es folgte der erste skandalöse Auftritt von Aquarium im Fernsehen, dann der zweite und der dritte ... Die Jugendabteilung des KGB zog sich zurück und löste sich bald auf, die Rockklubs wurden nicht mehr gebraucht, der Sozialismus kippte um.

Alle waren auf einmal frei und alles gut sichtbar. Mit dem Ende des Sozialismus verlor die Szene ihren Charme und ging blitzschnell unter – zusammen mit anderen Errungenschaften der früheren Zeit: der Untergrundliteratur, dem antisowjetischen Gruppensex (denn nur die Liebe macht frei in einer totalitären Gesellschaft) und dem Glauben an Amerika.

In die Räume des Rockklubs in der Rubinsteinstraße zog ein „Erotisches Nachttheater“ ein. Die 800 Bands verschwanden spurlos und schon nach einem halben Jahr konnte sich kaum einer mehr an sie erinnern. Der Klub verfügte früher über ein großes Musikarchiv. Ein Teil davon wurde privat abgeräumt, ein anderer Teil landete im Kiosk am Bahnhof. Die Kassetten verkauften sich aber nicht mehr. Der ganze russische Rock `n` Roll war als Protest gegen den öden sozialistischen Alltag entstanden. Die Texte waren wichtig. Und die Musik? Sie war schon immer Scheiße.

Die neuen Zeiten versprachen ein anderes Leben – in einer freien demokratischen Gesellschaft. Das klang vielversprechend. Nun wollten alle endlich auch mal schöne Musik hören. Und was ist schöner als Pop? Der Untergang der Rockszene schien vollkommen und unwiderruflich. Das große Geschäft mit Pop begann.

Die Popkultur blühte, die Jungs und Mädchen kamen und gingen, die Betriebsleitung blieb – ein vorbestrafter Komponist und vier alte Poeten, die für die Texte der Lieder verantwortlich waren (die Strophen mussten sich reibungslos miteinander reimen, Wörter mit mehr als fünf Buchstaben durften nicht verwendet werden). In seinem früheren Leben hatte der Komponist einen Videosalon zu Hause betrieben und Pornofilme verkauft, dafür landete er zwei Jahre im Knast, wo er komponieren lernte.

Von der alten Garde, den Helden der Subkultur, sind auch einige im Geschäft geblieben. Einer, Makarewitsch von Zeitmaschine, hat heute eine eigene Fernsehsendung, er kocht dort jede Woche live verschiedene Gerichte. Außerdem wirbt er auf zahlreichen Wandplakaten für Wunderbratpfannen aus Teflon und Mixgeräte der Marke Philips. Er ist dick geworden und bei den Hausfrauen des Landes sehr beliebt.

Ein anderer, Troitzky, der Schlagzeuger von Zwuki Mu, ist jetzt Herausgeber des russischen Playboy und denkt sich jeden Monat neue Sextipps aus. Einige andere Rockveteranen machen weiter Musik, sie haben gelernt, gut und zeitgemäß zu spielen, und dadurch ein neues, jüngeres Publikum gewonnen. Viele Rock-`n`-Roller sind aber auch jung gestorben, bei einem Autounfall – wie der Sänger von Kino – oder im Suff – wie der Sänger von Zoopark. Manche sind ins Ausland gegangen, nach Amerika, oder haben sich, wie Mamonow, auf dem Land niedergelassen. Er lebt seit Jahren in einem kleinen Dorf, füttert die Katzen vor der Dorfkirche und macht bei den dortigen Bauern Haschisch populär. „Kiffen statt trinken!“ lautet sein Agrarprogramm.

Mit der Zeit wurden alle mehr oder weniger von dem „freien Leben in der demokratischen Gesellschaft“ satt. Der flächendeckende Pop geht ihnen langsam auf die Nerven. Es entsteht aufs Neue ein Widerstandspotential, diesmal gegen den korrupten totalitären Kapitalismus und die bittersüße Popkultur, Quelle der allgemeinen Verblödung.

Der alte Geist des Rock `n` Roll scheint wieder aufzuerstehen. Er hat sich äußerlich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert, aber der kritische Anspruch ist wie früher hoch und die Musik hört sich richtig beschissen an. Die ersten Vorboten kamen – wie immer – aus St. Petersburg. Zum Beispiel Leningrad – eine Band mit fünf bis zwanzig Musikern, einem stets besoffenem Solisten namens Schnurow, frechen Texten, die nicht ins Fernsehen und in den Rundfunk dürfen, weil sie zur Hälfte aus schlimmen Schimpfworten bestehen, und einer Vorliebe für Skarythmen.

Die Band eroberte schnell die Herzen der jungen Leute. Leningrad machte sich über alles lustig, besonders über den Pop. Neulich produzierte die russische Britney Spears namens Zemfira einen neuen Hit: „Gesucht“. Es ging darin um Liebe und Verzweiflung: Ich, ich hab dich gesucht, von dir habe ich nächtelang geträumt ... Schon am nächsten Tag präsentierte Leningrad ihren Gegenhit „Gefunden“ in der Öffentlichkeit. Mich! Du hast mich gesucht! Du hast mich gefunden! Ich war es, der hässliche Zwerg aus deinem Traum, sang Schnurow.

Die Agentur von Zemfira reichte eine Klage vor Gericht ein: Leningrad habe die Melodie für den Hit „Gefunden“ von Zemfiras Lied „Gesucht“ geklaut. Schnurow gelang es jedoch zu beweisen, dass es in den beiden Lieder „gar keine eigenständige Melodie gibt, die man klauen könnte. Schnurow gewann diese Schlacht und darf nun das Lied „Gefunden“ überall in der Öffentlichkeit singen. Er will aber nicht.

Der Autor veranstaltet regelmäßig die Russendisco im Berliner Café Burger. Sein Buch „Russendisco“ erschien kürzlich im Goldmann Verlag