Ein Popstar, gescheitert

In einer Woche, am 6. Januar, endet das Heilige Jahr der katholischen Kirche. Doch trotz verhaltener Schuldbekenntnisse den Juden gegenüber, trotz anderer Zeichen von Fehlbarkeit scheint der alte, kranke Papst Johannes Paul II. sein glühendes und wichtigstes Ziel verfehlt zu haben: seine Kirche in neuem Glanz erstrahlen zu lassen

von PHILIPP GESSLER

Der Tiefpunkt der Feierlichkeiten war Ende Oktober erreicht. Damals präsentierten zweitausend Pizzabäcker aus aller Welt, auf dem Höhepunkt ihrer Wallfahrt nach Rom, dem Heiligen Vater ihre „Pizza Wojtyla“, eine Kreation in den Farben des Vatikan – mit gelben Zucchiniblüten und weißem Mozzarella als Belag. Johannes Paul II. bedankte sich in der Generalaudienz auf dem Petersplatz artig und lobte die „allseits geschätzte Tätigkeit“ dieser Pizzaioli.

Seit gut einem Jahr lebt die Ewige Stadt im Ausnahmezustand, der Kirchenstaat ohnehin: In wenigen Tagen, am 6. Januar, dem Festtag der Erscheinung des Herrn, geht das vom Papst zu Weihnachten vorigen Jahres ausgerufene „Heilige Jahr“ zuende. Und obwohl etwa dreißig Millionen Gläubige nach Rom pilgerten, ist das „Große Jubiläum“, alles in allem, grandios gescheitert. Praktisch alle Hoffnungen, die der Papst mit dem Jubeljahr verband, haben sich als trügerisch erwiesen. Schuld an dieser Bilanz ist vor allem einer: der Heilige Vater selbst.

Warum? Weil Johannes Paul II. womöglich zu viel erhofft hatte: Er sah in diesem Jubiläum „das Herz der geistigen Wiedergeburt“ seiner Kirche. Die Vorbereitungen waren dem Achtzigjährigen gar der „Schlüssel zu meinem Pontifikat“. Schon bei seiner Antrittsenzyklika 1979 hatte er auf das „nahe“ Jahr 2000 verwiesen und eine „feierliche geschichtlichen Stunde“ erwartet.

Immer öfter seither kam er mit apokalyptisch anmutenden Worten auf diese Idee zurück. Der alte, kranke Papst scheint auf dieses Jahr hingelebt zu haben – beherzigend die Mahnung des polnischen Primas Stefan Wyszyński an Karol Wojtyła nach der Papstwahl am 16. Oktober 1978: „Du musst die Kirche ins dritte Jahrtausend führen.“

Und er hat es geschafft. Wie im Brennglas vereinigte das Heilige Jahr noch einmal das Leben und Denken des pontifex maximus. Das Jahr war ein Drama an sich – passend für diesen Papst der großen Gesten, der im von Deutschen besetzten Polen Mitgründer eines vor allem illegal auftretenden Theaters war und dessen Stimme der britische Schauspieler John Gielgud als „perfekt“ bezeichnet hatte.

Die große Inszenierung begann vor gut einem Jahr in der Christmette, die in 58 Ländern live übertragen wurde. Bei dieser Eröffnung des 26. Anno Santo wurde Johannes Paul II. von knapp siebzigtausend Gläubigen innerhalb und außerhalb des Petersdoms wie ein Popstar empfangen. Fast zweieinhalbtausend Bischöfe und dreihundert Kardinäle waren dabei, als er die Heilige Pforte öffnete. Die Kraft für die traditionellen Hammerschläge an das Bronzetor hatte er jedoch nicht mehr. Minuten brauchte er für niedrigste Stufen.

Wie schon zuvor gab er in dieser Predigt vor, was er als Mammutprogramm vom Heiligen Jahr erwartete: ein umfassendes mea culpa der Kirche für die Sünden ihrer Vergangenheit und eine Neuevangelisierung der Welt, ein Durchbruch in der Ökumene und im Dialog mit den anderen Religionen.

Fortschritte sollte es geben bei der Achtung der Grundrechte und der Ächtung der Todesstrafe, bei einem Schuldenerlass für die Dritte Welt, der Entwaffnung der Welt und dem Schutz menschlichen Lebens – das bedeutet in seiner Logik: kein Eingriff in das Erbgut des Menschen, keine künstliche Empfängnisverhütung, keine Sterbehilfe.

Auch wenn der Papst für die meisten Linken, selbst in der Kirche, immer mehr zu einem roten Tuch wurde, sind einige von der Radikalität und Schlüssigkeit des päpstlichen Lebensschutzprogramms, begründet in seiner Biografie, fasziniert: Der Mensch ist als Ebenbild Gottes in seiner Würde und seinem Leben zu schützen – vor Marktfanatikern ebenso wie vor Klassenkampfideologen, vor Gentechnikern wie vor Diktatoren, vor Abtreibungsärzten und vor Generälen.

Doch diese ehrgeizige Agenda wackelte, gleich zu Beginn: Der kranke Papst musste Rücktrittsgerüchte ertragen. Anfang dieses Jahres brach Karl Lehmann, Kopf der Deutschen Bischofskonferenz, ein Tabu und brachte gar eine Demission des Papstes ins Gespräch. Statt über das Heilige Jahr redete man nun über Karol Wojtyłas Gesundheit und seine Nachfolger.

Voran in seiner Inszenierung kam der Papst erst am 18. Januar: Die Ökumene schien nach der „Gemeinsamen Erklärung“ zur Rechtfertigungslehre im Oktober 1999 einen weiteren Schub zu kriegen: Immerhin feierten Oberhäupter von 22 von Rom „abgefallenen“ Gemeinschaften mit dem Papst ein Glaubensfest. Doch schon die Vergebungsbitten für einstige Sünden der Kirche – von der Inquisition bis zum Antijudaismus – Mitte März waren für viele Menschen unbefriedigend: Es fehlte, vor allem, ein Wort der Entschuldigung über das Schweigen des Kriegspapstes Pius XII. zum Holocaust.

Was möglich gewesen wäre, zeigt ein Vergleich mit dem Schuldbekenntnis des letzten Nichtitalieners auf dem Papstthron, Hadrian VI., der 1522 verkünden ließ: „Wir wissen wohl, dass auch bei diesem Heiligen Stuhl schon seit manchem Jahr viel Verabscheuungswürdiges vorgekommen ist.“

Dennoch: Waren die ersten Monate des Heiligen Jahres eher durchwachsen, schien die Papstreise ins Gelobte Land Ende März alles noch einmal zu retten. Denn hier, an der Klagemauer oder im Dunkel der Gedenkstätte Jad Vaschem, fand er Worte, vor allem aber Gesten, die seinen Einsatz gegen jede Form der Judenfeindschaft bezeugten: Karol Wojtyła, nahe Auschwitz geboren, hat, so das Signal, die Schoah immer präsent. Als erster Papst besuchte er eine Synagoge und verurteilte jeden Antisemitismus – „von wem auch immer“, wie er zweimal sagte.

Auf dieser Pilgerreise war der Papst ganz bei sich, erschienen Person und Programm miteinander zu verschmelzen. Stimmig wirkte auch ein weiterer Höhepunkt des Heiligen Jahres. Am Weltjugendtag Mitte August strömten zwei Millionen Menschen in Rom bei großer Hitze unter freiem Himmel zusammen und feierten ihren Papst wie einen Mick Jagger, nur dass Karol Wojtyła die besseren Falten hat.

Der Papst blühte auf wie stets, wenn er junge Christen trifft. Nicht nur wegen der die Masse kühlenden Wasserwerfer, die das Universitätsgelände in ein Schlammbad biblischen Ausmaßes verwandelten, war in diesem Jesuswoodstock ein wenig von jenem Aufbruch zu ahnen, den sich der Papst von seiner Kirche erhofft hatte.

Doch in wenigen Tagen verschandelte der Petrusnachfolger sein ganz persönliches Anno Santo: Am 3. September sprach er den antisemitischen Unfehlbarkeitspapst Pius IX. selig: Der Staat Israel protestierte, Roms Oberrabbiner Elio Toaff fand keine Zeit mehr für ein jüdisch-christliches Treffen im Vatikan. Es kam noch takt- und herzloser: Mit „Dominus Iesus“ veröffentlichte der Chef der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, am 5. September ein später ausdrücklich vom Papst bewilligtes Papier, das allen Kirchen Martin Luthers schlicht ihr Kirchesein bestritt. Ein „Tiefschlag“, urteilte Margot Käßmann, Bischöfin in Hannover. Alle Fortschritte für die Ökumene schienen auf einmal hinfällig.

Fast war es, als zerschlüge der Papst, je länger das Jubeljahr dauerte, nach und nach fast alles, was er aufgebaut hatte. Beim kürzlichen Besuch des österreichischen „Feschisten“ Jörg Haider im Vatikan und durch den Polizeischutz für dessen Präsent, einen Christbaum aus Kärnten für den Petersplatz, wandelte sich diese Tragödie zur Farce.

So ist das Jahr des Johannes Paul II. zu einem Fiasko geworden: Sein Schuldbekenntnis überzeugte kaum. Er brüskierte zuerst die Juden, dann die Protestanten. Die orthodoxe Kirche akzeptierte nur ächzend seine geplante Reise nach Griechenland im kommenden Frühling. Obendrein musste der Lebensschützer Wojtyła mit ansehen, wie der US-Rekordhalter im Hinrichten zum Führer der freien Welt bestimmt wurde.

Und er musste erleben, wie in Palästina wieder gekämpft und gemordet wird, wie 83 Prozent der Italiener erklären, dass sie nichts gegen eine künstliche Empfängnisverhütung haben, und wie das Parlament der Niederlande ein Gesetz zur aktiven Sterbehilfe erließ. Ein Schuldenerlass für die armen Länder, eines seiner großen Ziele für das Jubeljahr, ist unrealistischer denn je.

Aber gab es womöglich trotz dieses politischen Debakels den Aufbruch im Glauben, den sich der Papst vom Heiligen Jahr erhoffte? Eine Euphorie wie beim II. Vatikanischen Konzil vor gut 35 Jahren ist zumindest in Europa nicht zu spüren. Vielmehr scheint es, als sei der Statthalter Christi, der Mitbegründer der Freiheit Europas und entschlossene Kämpfer gegen einen entfesselten Kapitalismus an der eigenen, überbordenden Inszenierung gescheitert.

So, als habe der alte Mann im Vatikan in diesem Jahr noch einmal alles gesagt, was er sagen wollte, ehe er bald endgültig verstummt. Als Johannes Paul II. die britische Königin Mitte Oktober traf, war er zu schwach, um seine Rede zu halten. Der Papst konnte sein Manuskript nur noch zu Protokoll geben.

PHILIPP GESSLER, 33, katholisch, lebt und arbeitet in der Berliner Diaspora