Mutters bunte Luftschlangen

Eine Silvestergeschichte

Ich hatte ein feines Gespür dafür, was Zusammenkünfte von Uncoolen waren, weil ich selbst einer war. Zu Silvester traf mich dieses Los immer mit seiner ganzen Wucht. Während andere von ihren Partys besoffen nach Hause getragen wurden, durfte ich mit faden Nebenklässlern in einer Neubauwohnung hocken und stundenlang ein Doppelstockbett beobachten.

Auch in diesem Jahr würde es darauf hinauslaufen. Aber wenigstens hatte Christian angekündigt, sich die Augen schwarz zu schminken, ich solle „Freud“ mitbringen, man könne sich ja zur Not ins Nebenzimmer verdrücken, Sekt trinken und Sachen über Neurosen lesen.

Als ich meine Freundin Gesa bei ihren Eltern abholte, wäre ich aber am liebsten gleich dort geblieben. Es roch nach Braten, die Tischfeuerwerke lagen bereit, die Familie lief aufgeregt durcheinander. Doch ich entführte das Töchterchen in ein Neubauviertel, in dem die Hausflure nach Katzenpisse stanken, und wo wir zwischen ein paar meiner Spiegelbilder Platz nahmen, die in Socken und im Schneidersitz auf der Auslegware saßen. Kaum hörbar schollerte die Musik. Als ich eine Flasche Sekt öffnen wollte, um wenigstens etwas zu unternehmen, kam es zum Streit, da man vor zwölf noch keinen Sekt trinken könne.

Ich überredete Gesa abzuhauen. Draußen gerieten wir gerade in das Geknalle, es roch angenehm vertraut nach Schwarzpulver. Ich erinnerte mich an meine Fotopapierbomben, deren Herstellung so tröstlich war in der trüben Stimmung zwischen Weihnachten und Neujahr. Aber Gesa reagierte hysterisch auf alles, was im Umkreis von zwanzig Metern explodierte. Ich hatte keine Lust, sie zu beschützen, wenn sie sich so albern benahm. Ich wollte lieber mitknallen. Zu ihrem Unglück rannte ein Russe sogar Blindgängern hinterher und versuchte, sie ein zweites Mal zu zünden.

Ich hätte heulen können über einen so armseligen Jahreswechsel. Zu Hause machte mein Vater jetzt eine Feuerzangenbowle mit zischendem Zuckerhut, die Nachbarn beschossen sich auf den Balkons mit Raketen und wir würden mit Duosantuben BFC an die Häuser malen und die Schrift anzünden. Und nach Mitternacht könnte man herumziehen und in den Bodenkampf einsteigen. Gesa hielt sich die Ohren zu und jammerte, und Christian lachte nervös über sein nervöses Lachen. Ich hatte genug und begleitete Gesa nach Hause.

Danach war es noch nicht einmal 1 Uhr, und ich ließ mich von Christian überreden, bei einer Bekannten von ihm vorbeizugucken. Sie wohnte in der Wohnung ihrer Mutter, einer Englischlehrerin aus unserer Schule, die vor kurzem in den Westen ausgereist war. Es war die einzige Lehrerin gewesen, die nicht in der Partei war, und ich war neidisch, weil ich Französisch lernte und sie mich nicht gekannt hatte. Ihre Tochter war tatsächlich zu Hause. Sie trug einen roten Wischmopp als Frisur und bot uns Wodka an.

Plötzlich war es still, ich saß in einer fremden Küche und trank, ohne die Wirkung einschätzen zu können, von diesem fabelhaften Getränk. Dass meine Freundin mich deprimierte, verstand ich zu der Zeit noch gar nicht. Ich konnte noch nicht unterscheiden zwischen einer Freundin zum Vorzeigen und einer zum Wohlfühlen. Wie hatte das mit ihr überhaupt begonnen?

***

Ich fuhr wie immer in den Sommerferien ins Oderbruch, wo es noch frei herumlaufende Wespen und Schafe gab. Ich war in dem Alter, in dem ein Junge nicht mehr ohne seinen Kassettenrekorder aus dem Haus gehen konnte. Seit einem Jahr ging ich auf die neue Schule, und ich konnte es kaum erwarten, dass die letzten drei Schuljahre endlich rum wären. Ich hatte es satt, dass mir von den anderen in der Pause ständig meine Schultasche und meine Tintenkiller geklaut wurden. Ich wäre lieber zu Hause geblieben, aber meine Mutter hatte mich mit der Ankündigung ködern können, dass ich auf dem Dorf ein Mädchen treffen würde, mit dem ich schon im Modder gespielt hätte, als ich noch nicht reden konnte. Sie sei immer so schnell über den Hof geflitzt. Immerhin, dachte ich, ein Mädchen ist besser als jeden Tag Ferienprogramm.

Sie saß dann tatsächlich am Tisch in der Stube und pulte Erbsenschoten aus. Es stellte sich heraus, dass sie auf eine katholische Mädchenschule ging und dass wir fast den gleichen Schulweg hatten. Wir machten aus, uns im neuen Schuljahr morgens auf dem U-Bahnhof Frankfurter Allee zu treffen, um dann ein Stück gemeinsam zu fahren. Aber das war Zukunftsmusik. Zunächst musste ich hier einen guten Eindruck auf sie machen.

Rico auf jeden Fall war keine Konkurrenz. Er zeichnete sich dadurch aus, dass er Spinnen in die Hand nahm, zu Hause in der Garage russische Granaten zersägte und bei seiner Chemieprüfung fast die Prüfungskommision mit Schwefelqualm erstickt hätte. Dafür wusste ich beim Scrabble, dass es „liquidieren“ hieß und nicht „lequidieren“.

Unser Wettstreit um Gesas Aufmerksamkeit kostete Opfer. Bald waren lebende Fliegen in der Küche eine seltene Rarität, um die man sich stritt, weil wir sie mit zerrissenen Einweckgummis erlegten. Dann entdeckten wir in der Mauer des Geräteschuppens ein Wespennest. Wenn eine Wespe rausguckte oder eine andere im Anflug war, spritzten wir sie mit einer Blumenspritze nass, bis sie sich hinsetzen musste, und schlugen mit unseren Schnipsgummis zu. Am Ende beerdigten wir drei Dutzend Wespen in einem Massengrab. Gesa weigerte sich aber, für sie zu singen.

Weil wir jung waren, kamen wir auf die Idee, uns einen Sonnenaufgang anzusehen. Ich stand um 4 Uhr morgens auf. Leider wurde auch Rico wach. Wir weckten Gesa und setzten uns auf den Hang an der Ostseite des Ortes, von wo aus man weit über Polen sehen und sich vorstellen konnte, wie damals die Panzer angerollt sein müssen. So warteten wir auf den Sonnenaufgang, von dem wir uns ein farbenprächtiges Schauspiel erhofften.

Die Sonne tauchte aber nicht langsam und zur erwarteten Zeit auf, sondern sie war plötzlich da. Eine banale gelbe Scheibe ohne jeden Farbeffekt. Wir warteten noch ein bisschen, aber das war tatsächlich schon die Sonne gewesen. Später lagen wir beim Baden im heißen Sand, ignorierten die Dorfkinder und lasen „Farm der Tiere“.

Die Sonne knallte aufs Papier und man konnte sich am Ende jeder Seite zunicken, um gemeinsam umzublättern. Währenddessen fing Rico eine riesige Heuschrecke, rollte sie in eine Modderkugel ein und kullerte sie eine Telelottospirale aus Sand hinunter. Dann grub er sie im Schlamm ein und nach einer halben Stunde wieder aus, um zu sehen, ob sie noch lebte.

Mir krabbelten die Ameisen die Beine hoch, als wir versuchten uns zu küssen. Es gab wieder keinen Ohnmachtsanfall und keine jubilierenden Engelschöre. Nur einen Spuckefaden zwischen unseren Mündern. Und als ich Gesa den Berg zum Wasser runterlaufen sah, sah ich nicht lange hin. Ihr Badeanzug war ein Schlag ins Gesicht des Cupido. Aber ich ließ mir natürlich nichts anmerken.

Wir spannen weiter an unseren Spuckefäden und unternahmen lange Spaziergänge, auf denen wir alle zwanzig Meter reflexartig ins Gras sanken. Die Mücken stürzten sich noch gieriger auf sie als ich, ihre weißen Söckchen waren bald von schwarzen Mückenkadavern bedeckt. Wenn sie keine Insekten abwehren musste, musste sie mich daran hindern, ihren Pulloverreißverschluss zu öffnen.

Ich war damals ein Kind des Fortschrittsdenkens, ich wusste nicht, wohin das führen sollte, aber die gebotenen Genüsse wurden schnell langweilig. Wenn ich an zahllosen Wegkreuzungen langsamer oder schneller gegangen war, um zahllosen Mädchen zufällig zu begegnen, hatte es mehr gekribbelt. Aber Gesa sang im Kirchenchor, da kam man nicht auf die Idee, dass sie nicht die Richtige war. Am ersten Schultag nach den Ferien erinnerte ich mich an unsere Verabredung, benutzte die hintere Bahnhofstreppe und wartete ungeduldig auf den Zug.

Sie fand mich trotzdem. Sie trug Cowboystiefel, in deren Schäften eine neue grüne Jeanshose steckte. Ich musste sofort weggucken, durfte das aber eigentlich nicht. Sie fragte mich, warum ich nicht vorn mit den anderen runtergekommen sei, ich log, dass ich doch immer hier runterginge. Dann saß ich schweigend neben ihr in der U-Bahn und die Fahrt dauerte zwei Jahre. Die ganzen fünf Minuten sprachen wir kein Wort.

In der folgenden Zeit nahm ich die letztmögliche S-Bahn und hoffte, dass sie sich verspätete. Wenn Gesa zu meinem Schrecken gewartet hatte, sah sie mich vorwurfsvoll an, weil sie wegen mir zu spät zur Schule kam. „Pendelverkehr“ war meine Ausrede.

Wenn sie anrief, reichte man mir mit einem triumphierenden Grinsen den Hörer, und ich musste das Telefon ins Schlafzimmer meiner Eltern tragen, wo dauernd meine Mutter hineinplatzte: „Kannst gleich weiterreden.“ Ich solle das Mädchen doch mal nach Hause einladen, statt so lange mit ihr zu telefonieren.

Mir war das alles zu viel. Als ich eine wasserfeste Wasserwanderkarte kaufte und den Weg studierte, auf dem wir durchs Oderbruch nach Masuren paddeln könnten, traute Gesa sich nicht wegen der Mücken. Als wir uns auf den Stufen des Schauspielhauses küssten, trug sie eine gelbe Stoffhose. Als ihre Klasse den Sommernachtstraum aufführte und sie eine Elfe spielte, wäre sie besser unsichtbar gewesen.

Unser letzter Anruf dauerte am längsten. Nie war in einer halben Stunde so wenig gesagt worden. Sie wollte wissen, was los sei, und ich konnte mich zu keiner Antwort durchringen. Je länger sie schwieg, desto unmöglicher wurde es mir, das Schweigen zu brechen. Ich dachte nur daran, wann ich endlich weiter mit den anderen „Wetten dass“ gucken könnte, um anschließend wie gewohnt beim Sportstudio einzuschlafen.

***

Am Neujahrsmorgen wachte ich früh auf, in der Wohnung der Lehrerin. Die Sonne drang nicht durch die tief hängenden Wolken, wir aßen den bereitgestellten Toast und tranken Kaffee. Warum hatte ich nicht so eine Lehrerin mit so einer Tochter? Oder so eine Schwester mit so einer Mutter? In meiner Familie färbte sich niemand die Haare. Und geschieden war auch keiner, obwohl es doch zu zweit offensichtlich viel gemütlicher war als zu fünft.

Im Nieselregen stapfte ich niedergeschlagen mit meinem verbeulten Rucksack die Dimitroffstraße hoch. Jetzt waren die Ferien fast vorbei, der Rest des Jahres würde auch nicht besser. Ich träumte davon, in sonnigen, sandigen Heidelandschaften mit einem Mädchen wie schwerelos den Sommer zu durchwandern. Mehr Vorstellungen hatte ich damals nicht vom Glück.

Ich hatte immer noch die bunten Luftschlangen in Rucksack, die mir meine Mutter am Tag zuvor für unsere Party aufgeschwatzt hatte. Sie verstand ja, dass mir das peinlich sein musste, aber sie sagte auch voraus, dass es am Ende eben doch Spaß machen würde, sie durch die Luft zu jagen. Es würden schon alle mitmachen. JOCHEN SCHMIDT