Das weite Feld muslimischen Lebens

Einer Anfrage der Union ist es zu verdanken, dass die Bundesregierung erstmals einen Überblick über das Leben der Muslime in Deutschland zusammengestellt hat – vom Kopftuch über Feiertagsregelungen bis hin zur Friedhofsruhe, vieles ist ungeregelt

von SEVERIN WEILAND

Im Juni 1999 preschte die Unionsfraktion vor. Auf einer Tagung „Islam in Deutschland“ debattierten Innen- und Rechtspolitiker mit führenden Muslimen. Fragen blieben, die die Fraktion vor einem Jahr an die Bundesregierung weitergab. Jürgen Rüttgers, heute im nordrhein-westfälischen Landtag CDU-Fraktionschef, ist es vor allem zu verdanken, dass jetzt mit der jetzt vorliegenden Antwort der Bundesregierung ein einmaliger Überblick über das Leben der Muslime in Deutschland vorliegt.

Vom Moscheenbau über die diversen Vereinstätigkeiten, Muslime in der Bundeswehr bis hin zur Repräsentanz oder Nichtrepräsentanz in öffentlichen Institutionen wird in der 93-seitigen Antwort ein weites Feld gezeichnet. Auch problematische Entwicklungen – etwa extremistische Tendenzen – werden benannt.

Viele Basisdaten sind Schätzungen. So heißt es, die Zahl der Menschen muslimischen Glaubens liege bei „etwa 2,8 bis 3,2 Millionen“. Davon seien zwischen 370.000 und 450.000 deutsche Staatsangehörige. Ausdrücklich weist die Bundesregierung die Union daraufhin, dass der Titel ihrer Großen Anfrage „Islam in Deutschland“ eine inhaltliche Verkürzung darstellt. Denn „den Islam als monolithischen Block“ gebe es nicht. Unter der Vielfalt ragen als größte muslimische Glaubensrichtung die Sunniten mit rund 2,4 Millionen Anhänger, mehrheitlich Türken, heraus. Danach folgen Schiiten, die vornehmlich aus der Türkei stammenden Aleviten, die pakistanisch dominierte Ahmadiyya-Muslim-Bewegung sowie einige kleinere Vertreter anderer islamischer Gruppierungen.

Die Zersplitterung der muslimischen Richtungen zeigt sich auch in einer aufgefächerten Vereinslandschaft. Größte Organisation ist die „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion“ (DITB), einer aus Ankara gelenkten staatlichen Auslandsorganisation. Für Türken existieren daneben der „Verband der Islamischen Kulturzentren“ (VIKZ), der sich hauptsächlich auf Korankurse konzentriert, und die vom Verfassungsschutz beobachtete „Islamische Gemeinschaft Milli Görüș“.

Was die Antwort der Bundesregierung besonders lesenwert macht, sind Vergleiche auf Länder- und Europaebene. Beispiel: die Zulässigkeit des Gebetsrufes. Ähnlich wie beim Glockengeläut der christlichen Kirchen dürfe dieser jedenfalls „nicht zu einer erheblichen Lärmbelästigung der Nachbarschaft und zu einer Gefährdung der Verkehrssicherheit führen“, zitiert die Antwort eine frühere Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts. In Großbritannien wird der Gebetsruf per Lautsprecher nur in Ausnahmefällen erlaubt, und dann auch nur zwischen 8 und 20 Uhr; in Frankreich wird die Verwendung von Lautsprechern nicht geduldet.

Ein zweites, zum Teil heftig diskutiertes Thema ist das Tragen des Kopftuchs an Schulen und Universitäten. Betroffen sind hier in der Regel Lehrkräfte. In Baden-Württemberg hat das Land einer Grundschullehrerin dies untersagt – mit der Begründung, die Neutralitätspflicht im Schulbereich habe Vorrang vor der Freiheit der Religionsausübung. Auch in Niedersachsen ist ein Rechtsstreit anhängig. Wie sieht es Europa aus? In Großbritannien kann ein Schulleiter oder Arbeitgeber das Tragen muslimischer Kleidung verbieten – in der Praxis „dominieren allerdings pragmatische Lösungen“. Ähnlich verhält es sich in Frankreich, wo das Kopftuchtragen an Schulen untersagt werden kann, wenn es „im Einzelfall als provokativ, insbesondere missionarisch“ aufzufassen sei. Der Anteil praktizierender Muslime ist hoch. Nach einem Bericht der Ausländerbeauftragten besuchen 32 Prozent mindestens einmal pro Woche eine Moschee.

Welchen Herausforderungen sich das Einwanderungsland Deutschland stellen muss, vermitteln zum Beispiel die Friedhofsordnungen. Nach muslimischer Auffassung sollen Tote nur mit Leichentüchern bedeckt begraben werden. In der Mehrzahl der Bundesländer ist dies (noch) nicht vorgesehen. In Hessen hat man einen Kompromiss gefunden: Der Sargdeckel wird neben den Sarg gelegt.

Hier wie in anderen Bereichen werden Regelungen in Zukunft notwendig sein. Denn die Bundesregierung hat in ihrem Vorwort klargestellt: „Die hier lebenden Muslime sollen ihre kulturelle und religiöse Identität nicht preisgeben.“

Antwort der Bundesregierung; Drucksache 14/ 45 30. Zu beziehen über den Bundestag in Berlin.