Macht Sätze zu Irrgärten!

Bei der Autorin Katja Lange-Müller und ihrem kleinen, reichen Roman „Die Letzten“ gibt es viel zu erfahren. Unter anderem, warum man eben doch auch unbedingt zwischen den Zeilen lesen muss

Willi hat ein Geheimnis – ein nicht auszudrückendes Mutter-Sohn-Desaster

von CRISTINA NORD

Einmal, es muss wohl in der neunten Klasse gewesen sein, erklärte uns die Lateinlehrerin, warum es der Junge, aber das Mädchen heißt: weil es sich bei Mädchen um die Verkleinerungsform von Magd handelt und Verkleinerungsformen immer im Neutrum stehen. Uns 14-Jährigen kam es fragwürdig vor, dass wir als sächlich galten, obwohl unsere Körper eine andere Sprache sprachen. Mit der Nüchternheit von Grammatik und Etymologie wollte die Lehrerin unsere Zweifel bannen, erreichte aber das Gegenteil. Nicht genug damit, dass wir unter die sächliche Form fielen, nun stammten wir auch noch von der Magd ab.

Dass in Wirklichkeit alles noch viel schlimmer ist, erfährt, wer Katja Lange-Müllers Roman „Die Letzten – Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei“ liest. „Manfred war ein komisches Kind“, heißt es in einer Rückblende, die sich mit einem Arbeitskollegen der Icherzählerin befasst. „Er war ein bisschen dicklich, sehr weiß, mit feinem hellen Haar. Wir nannten ihn ‚die Made‘ oder noch gemeiner ‚das Mädchen‘.“ Die Made, das Mädchen. In der Tat: Das ist gemein – und nicht die einzige Verwegenheit in Lange-Müllers Roman, auch nicht die einzige plötzliche Einsicht in diesem an Bosheiten und Einblicken reichen Text.

„Die Letzten“ ist ein kurzer Roman, der erste der 1951 in Ostberlin geborenen und 1984 in die Bundesrepublik übergesiedelten Autorin, ein heterogener Text, der keinem in sich abgeschlossenen Aufbau folgt, sondern sich aus verschiedenen Teil- und Binnenerzählungen zusammensetzt. Die sind bald lose verwoben, bald aufwändig verschachtelt – Letzteres spiegelt sich in der Syntax, die vor gewagten Gliedsatzgefügen keine Angst hat und auch nicht haben muss, da die Autorin die Kunst des langen Satzes beherrscht. Zum Beispiel, wenn die Icherzählerin in eine amouröse Zwickmühle gerät: Dann verwickeln sich auch die Satzglieder. Je weiter eine glückliche Auflösung der Dreiecksbeziehung in die Ferne rückt, umso vertrackter geraten Temporal- und Kausalbeziehungen, umso mehr ähnelt der einzelne Satz einem Irrgarten.

„Die Letzten“ spielt in den Siebzigerjahren, in einem privaten Druckereibetrieb in Ostberlin, in einem Umfeld also, das sich aufgelöst hat. Der Beruf existiert nicht mehr, das Land nicht, und auch die Stadt hat sich zur Unkenntlichkeit verändert. Für Katja Lange-Müller ist das kein Grund zur Nostalgie. Ihr Tonfall ist lakonisch, nonchalant, bisweilen spielt er ins Aberwitzige: „Ich lernte Rinderzüchter und übte mich an meiner ersten festen Freundin“, heißt es dann, in einer weiteren Rückblende.

Die Helden sind aus dem sozialistischen Gang der Dinge gefallen. So pflegt die mit dem Beinamen Püppi versehene Icherzählerin ein zu inniges Verhältnis zum Alkohol, ihr in der Jugend als Made und Mädchen verspotteter Kollege Manfred versteht sich mit Maschinen besser als mit Menschen, der Maschinensetzer Fritz neigt zum Widerspruch und weigert sich zudem, der Gewerkschaft beizutreten. Und Willi, „dessen Augen, Wangen, Lippen, Hände so tief grau waren, dass er aussah wie eine Fleisch gewordene Bleivergiftung oder richtiger wie zu einer Bleivergiftung gewordenes Fleisch“, nun, Willi hat ein so schwer wiegendes Geheimnis, dass es uns der Roman nur andeutungsweise offenbaren kann.

Als Udo Posbich, der Inhaber des Druckereibetriebs, spurlos verschwindet, kommt die Erzählung an ein vorläufiges Ende. In einer überraschenden Volte rückt Katja Lange-Müller den bisher vernachlässigten, mittlerweile in Heinz Grünbaum umbenannten Setzer Willi in den Mittelpunkt. Von nun an geht es um dessen Geheimnis und die Art und Weise, wie er versucht, dieses Geheimnis mitzuteilen, ohne es preiszugeben: indem er es zwischen den Buchstaben, zwischen den Zeilen von Posbichs Druckerzeugnissen versteckt. Seinen ganzen Eifer setzt er daran, mit dem Weißraum zwischen den Buchstaben einen Text zu schreiben. So füllt er zunächst unbedeutende Zeitungen wie Sport Frei! und Diagnose, später einen Nachdruck des „Zauberberg“ mit Geheimbotschaften, die von einer ödipalen Katastrophe künden.

Auf die Idee kommt Heinz beziehungsweise Willi, als er müde über Korrekturfahnen sitzt. „Die Buchstaben tanzten mir vor den Augen wie Mückenschwärme, wuselten umeinander wie Ameisen.“ Der Blick entziffert die Zeichen nicht mehr, sondern lässt sie wirbeln wie ein schwarzes Schneegestöber. Die Buchstaben versagen ihren Dienst, weil sie nichts mehr bedeuten. Erst als der Setzer den Weißraum zwischen den Zeilen und Buchstaben fixiert, ergibt sich neuer Sinn. Aus diesem Zwischenraum lassen sich Buchstaben formen, aus den Buchstaben Wörter, daraus Sätze und daraus die Konfession eines Mutter-Sohn-Desasters.

Doch bevor sich Heinz beziehungsweise Willi ganz offenbaren wird, verschwindet Posbich. Der Setzer verliert seinen Arbeitsplatz und flieht bald darauf Richtung Zentralasien. Dass uns das Geheimnis verborgen bleibt, liegt an der Schlampigkeit der Erzählerin: Sie verliert die Druckfahnen, die einst unter großen Mühen gefertigt und unter noch größeren Mühen von Ost nach West geschmuggelt wurden, als sie bei einer Zugfahrt drei Schnäpse trinkt und einschläft.

Katja Lange-Müller: „Die Letzten – Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000, 135 Seiten, 28 DM