Endlich die Seele gestreichelt

Das „Weglaufhaus“ feiert seinen fünften Geburtstag. Die antipsychiatrische Einrichtung ist ein Zufluchtsort für Menschen, die es in psychiatrischen Institutionen nicht mehr ausgehalten haben. Gesundheitssenatorin: „Notwendig und sinnvoll“

Birgit hat acht Jahre hinter dem Mond verbracht. So jedenfalls sieht die 32-jährige Berlinerin ihre Leidenszeit in der Psychiatrie. „Ich war wie aus der Welt gefallen“, sagt sie heute. Zwischen 1990 und 1998 war Birgit die meiste Zeit in wechselnden geschlossenen Abteilungen, die wenigen Wochen dazwischen verbrachte sie, inzwischen abhängig von Psychopharmaka, „wie unter einer Glocke“. Die Wende kam im Februar vor knapp drei Jahren. „Ein Mitpatient erzählte mir vom Weglaufhaus. Ich wusste, da will ich hin.“ Die Zeit in der einzigen antipsychiatrischen Einrichtung der Bundesrepublik hat Birgit vor einem Leben in Anstalten gerettet. Das Projekt ist jetzt fünf Jahre alt geworden.

Horrorvisionen über Psychiatrie mit Medikamenten, Fesseln, Isolation, Entmündigung, Hoffnungslosigkeit kennt jeder. Fundamentale Kritik an der Psychiatrie haben auch die Gründer des Weglaufhauses, die einen Zufluchtsort für Menschen schaffen wollten, die unter der Psychiatrie leiden. „Im Grunde war das Projekt von Anfang an ein Frontalangriff gegen die herrschende Meinung“, sagt Stefan Bräunling, einer der 14 Betreuer, die sich heute in der Villa in Reinickendorf um maximal 13 Bewohner rund um die Uhr kümmern. Was ist schon verrückt? Das ist die Kernfrage. Die Definition des Weglaufhauses lautet, die betroffenen Menschen seien „auf einem für andere schwer verständlichen Weg auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt“.

Ziel ist es, eine Art Fluchtpunkt für Menschen mit einer „Psychiatrie-Karriere“ zu schaffen – und ihnen zu helfen, eine Perspektive für den Weg in ein selbst bestimmtes Leben zu geben, beispielsweise in einer Wohngemeinschaft oder in einer eigenen Wohnung. Zuerst geht es aber um konkrete Aufgaben: Medikamentenentzug, Arztbesuche, Gespräche, Behördengänge.

Doch die Behörden haben das Weglaufhaus oft skeptisch betrachtet. Die ehemalige Gesundheitssenatorin Beate Hübner (CDU) wollte dem Haus gar jegliche Unterstützung entziehen, ihre SPD-Nachfolgerin Gabriele Schöttler ist wohlwollender. Momentan finanziert sich das Haus über Tagessätze, die mit der Senatsverwaltung ausgehandelt wurden. Der Tagessatz liegt derzeit bei rund 200 Mark. In der Psychiatrie eines Krankenhauses sind es 300 bis 500 Mark. „Wir halten das Weglaufhaus für notwenig und äußerst sinnvoll“, betont Schöttlers Sprecherin Regina Kneiding.

Regel Nummer eins für die Betreuer – Sozialarbeiter, Psychologen, aber auch Handwerker – ist, dass sie keine Psychiater sind, mindestens die Hälfte von ihnen muss eigene Erfahrungen in der Psychiatrie gemacht haben. Das jedoch hätte Schöttlers Verwaltung gerne geändert. Sie wollte, dass nur noch Sozialarbeiter mit einer staatlichen Anerkennung oder Gleichgestellte dort arbeiten. Nach Verhandlungen der Weglaufhaus-Mitarbeiter wurde dies aber fallen gelassen.

Regel Nummer eins im Haus: Es gibt keine verschlossenen Türen, keine Zwangsmaßnahmen, absolute Transparenz. Das Projekt steht offen für Menschen, die durch ihre „Psychiatrie-Karriere“ in Obdachlosigkeit geraten sind oder denen der Verlust der Wohnung droht.

Momentan ist das Haus voll belegt. „Wir waren in diesem Jahr gut ausgelastet“, sagt Sozialarbeiterin Iris Hölling. Das war in der Vergangenheit anders. Das Haus war in den ersten drei Jahren nicht so bekannt, funktionierte eher über Mundpropaganda. Heute vermitteln auch Ämter und psychiatrische Einrichtungen Menschen an das Weglaufhaus. Der Durchschnittsaufenthalt liegt bei 77 Tagen.

Für Birgit war das Weglaufhaus der richtige Weg. Ihre Zeit in der Psychiatrie begann nach dem Tod ihrer Mutter mit einem Selbstmordversuch. Sofort sei sie mit Medikamenten therapiert worden, die Diagnosen lauteten auf verschiedene psychische Erkrankungen. Und ein Psychiatrieaufenthalt folgte dem nächsten. „Ich wurde zum Drehtürpatienten“, sagt sie. Ihre beiden Kinder wurden in Heime gebracht, eine Ehe, die sie in einer Pause zwischen den Klinikaufenthalten schloss, scheiterte an Gewalttaten des Mannes.

Birgit hatte niemanden mehr: „Meine Familie glaubte, ich sei verrückt, meine Freunde auch, und schließlich glaubte ich es selbst auch.“ Was blieb, waren in ihrer Erinnerung Medikamente und Klinikbetten hinter verschlossenen Türen „Und der entscheidende Punkt war, dass nie jemand mit mir geredet hat. Dabei war das genau das, was ich brauchte.“ Niemand habe je Zeit für sie gehabt. Wie auch immer, als sie über den Tipp eines anderen Patienten ins Weglaufhaus kam, „war das zum ersten Mal, dass jemand meine Seele gestreichelt und gehätschelt hat“. Nächtelange Gespräche, Aggressionsabbau am Sandsack, Kontakt zu den eigenen Kindern – für Birgit eröffneten sich Perspektiven. Heute wohnt sie mit ihrem kleinsten Sohn – dem dritten – in einer eigenen Wohnung, arbeitet stundenweise im Weglaufhaus und versucht, sich und ihren Kindern den Weg zu ebnen.

Birgits Geschichte ist eine Erfolgsstory; längst nicht alle Bewohner des Hauses schaffen diese Riesenschritte. Mitunter führt der Weg auch wieder in die Psychiatrie. Für die Mitarbeiter des Projekts ist das nicht unbedingt ein Misserfolg. Denn wenn Bewohner diesen Weg wählen, dann tun sie das meist aus eigenem Willen. Und um Selbstbestimmung geht es eben.

DPA/NAU

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