die stimme der kritik
: Betr.: Wechselwirkungen von Popmusik und Alzheimer

Die Wissenschaftsfalle

Es war ein aufregendes Jahr, ohne Zweifel. Die Genom-Entschlüssung von Mensch und Ackerschmalwand, die neue Ökonomie und ihr Absturz an der Börse, BSE und die Folgen – da kamen wir aus dem Staunen gar nicht mehr raus, da lasen wir nicht mehr nur Vermischtes und Kultur in den Zeitungen, sondern vor allem die Wissenschafts- und Wirtschaftsseiten. Kurz nach Weihnachten, als wir uns eigentlich mit ein bisschen was Leichtem erholen und in Ruhe auf die Jahresrückblicke einstellen wollten, wartete dann noch der Berliner Tagesspiegel mit einer sensationellen, die Welt potenziell aus den Fugen bringenden Meldung auf: „Interesse an Popmusik Zeichen für Demenz“. Italienische Wissenschaftler hatten beobachtet, dass zwei an Alzheimer erkrankte Menschen plötzlich begannen, Popmusik zu hören: Der eine ganz laut die einer italienischen Popgruppe, die andere die Musik ihrer 11-jährigen Enkelin. Natürlich sollten daraus keine falschen Rückschlüsse gezogen werden, erklärten die Wissenschaftler in der Fachzeitung Neurology: Alzheimer und eine verstärkte Neigung für Popmusik gehörten nicht automatisch zusammen, und Pop-Fans seien nicht gefährdeter als andere, an Alzheimer zu erkranken.

Doch die Tagesspiegel-Überschrift „Interesse an Popmusik Zeichen für Demenz“ suggerierte anderes und zündete ordentlich Fehlschaltungen in den Neuronen unserer Hirnzellen: Pop weicht das Gehirn auf und macht dumm, Klassik hören und Tagesspiegel lesen macht schlau (fragt Julian Nida-Rümelin auf der gestrigen Titelseite des Blattes: Warum nicht Menschen klonen?). Natürlich ist so was auch kein Wunder bei italienischer Popmusik oder der Musik von Elfjährigen: Britney Spears, Loona, Boyzone. Oder war da jetzt zuerst Alzheimer und dann die Musik? Und schließlich gibt es ja noch Schlaumeierpop wie den von XTC, Brian Wilson oder Steely Dan. Auch eine Meldung auf der Website des deutschen Alzheimer-Forums beruhigt. Dort heißt es, schwedische Wissenschaftler hätten herausgefunden, Popmusik trage dazu bei, dass Demenz-Kranke mehr essen und sich gleichzeitig entspannen. Pop also doch gut, Gott und den Schweden sei Dank!? Zu denken aber gibt dann wieder, dass Big-Brother-Christian seine Single „Es ist geil, ein Arschloch zu sein“ 670.000-mal verkauft hat und seit sechs Wochen die deutschen Charts anführt. Doch wahrscheinlich ist das bloß Kulturpessimismus. Oder eine ganz andere Geschichte.

GERRIT BARTELS