Heiligtum in Plastiktüten

■ In der Werkstattgalerie zeigt Matthias Geitel, was er beim Spaziergang im Berliner Süden so alles gefunden hat

Matthias Geitel findet „Pi“ toll. In diesem Film aus dem Jahr 1998 glotzt ein junger Computerfreak in den Blattsalat einer Baumkrone oder auf das Passantengewusel in den Straßen und sucht nach der geheimen Ordnung hinter all dem Chaos namens Leben. Über solch schwierigem Ansinnen wird er natürlich verrückt.

Verrückt ist Matthias Geitel zum Glück noch nicht. Auf der Suche nach verborgenen Zusammenhängen ist er aber auch. Und so sind seine Austellungen nicht die Addition einzelner autonomer Kunstwerke, sondern Ausschnitte aus einem großen unabschließbaren, dichtest vernetzten work in progress, wo alles mit allem irgendwie zusammenhängt. Ist die Zeit da für ein umfassendes Zwischenresümee, so zieht er das in einem Buch, das Fremd- und Eigentexte, Fotos und Zeichnungen, Computerarbeit und Druckgrafik, Vergangenheit und Gegenwart sampelt: mal ist es ein Verschmelzen, ein Ineinanderprojizieren, ein Nebeneinanderstellen. Acht dieser Collagenwerke gibt es mittlerweile schon. Der Verlag, den Geitel zum Zwecke deren Herausgabe gegründet hat, heißt „Anonymus Pi“. Die Analogie des Namens mit dem Film „Pi“ ist zufällig, und warum Geitel seinen Verlag nannte wie er ihn nannte, weiß er nicht mehr ganz genau, wie ihm des öfteren die Assoziationswege entfallen sind, auf denen er vom Hundertsten zum Tausendsten mäandert. Aber da soll sich schließlich der Betrachter selber seine Gedanken machen.

Am Anfang dieser Systemarbeit standen lange Zeit irgendwelche Fundstücke, zum Beispiel abgerissene Tapeten. Vor ein paar Jahren traf Geitel dann die Entscheidung, wieder zurückzukehren zur reinen Zeichnung. Aber wie es mit Entscheidungen so ist, wirft sich die Wirklichkeit dazwischen. In diesem Fall war jene Wirklichkeit ein Ort namens Dreilinden. In dieser Grenzlandödnis im Süden Berlins fand Geitel einen Berg von Druckplatten, die mindestens 70 Jahre alt sein müssen. Aber der Mann war standhaft und ließ sie liegen. Doch am nächsten Tag kam er wieder, mit Plastiktüten zum Einsacken. Etwa einhundert Stück dieser Zinkplatten hat er nun in der Werkstattgalerie am Güterbahnhof so gruppiert, dass sie die Form einer antiken Henkelvase ergeben. Viele der Druckplatten stammen nämlich aus einer Publikation des Deutschen Archäologischen Instituts Berlin aus den 30er Jahren über das Kabilenheiligtum in der Nähe Thebens.

Heute sind nur noch die Grundmauern eines Amphietheaters zu sehen, in denen einst wohl dionysische Fruchtbarkeitsriten stattfanden. Auf Vasenscherben, die vor Ort in den 50er Jahren ausgegraben wurden, sind kleine, lustige Pornobildchen zu sehen. Geitel reiste hin, knipste Fotos, stellte halbironisch rituelle Handlungen nach und malte, und zwar mit einem Goldstift der Firma SAKURA und einem „paint marker edding 750 cyanblau“, wie das Buch zu dieser künstlerischen Reise halb schalkig, halb präzisionsfanatisch erzählt. Das Buch heißt „Iocyán“, eben nach dem mittelmeerisch strahlendem Cyanblau und Io, jener Geliebten des Zeus, die, um der Rache der Göttergattin zu entkommen, in eine Kuh verwandelt wurde und von einer Bremse von einer Katastrophe zur nächsten gejagt wurde – bis zum Paradies in Ägypten.

Geitel dokumentiert im Buch via Satellitenbilder diesen Fluchtweg, aber auch seinen eigenen Reiseweg, er zitiert Aischylos, stellt Wortfelder zu Schlüsselthemen des Mythos zusammen, generiert komplizierte Prosa wohl in einem cut-up-Verfahren und und und ... Er entwickelt wunderschöne Zeichen, die wie Piktogramme wirken, aber mit ihrer Vermengung von mikrobiologischen, technoiden und noch vielen weiteren Anspielungen angenehm dubios bleiben.

In seinen Städtebildern, stark reduzierte Skizzen von Postkarten oder Fotos, untersucht Geitel Wahrnehmungsstrukturen: Warum erkennt man in drei mickrigen Kurven einen Lastwagen, in zwei Linien eine New Yorker Großstadtstraße? Und am Ende weiß man, dass alles mit allem zusammenhängt: Dessouswerbung auf Plakaten mit Vasenscherben, Maschinendarstellungen auf halbverrotteten Zinkplatten mit Mikrobendarstellungen. Hoffentlich macht das nicht verrückt. Barbara Kern

Die Ausstellung in der Werkstattgalerie am Güterbahnhof wird heute um 20 Uhr eröffnet (bis 25.1. zu sehen). Infos: Tel.: 957 99 99