Gorbis uneheliche Kinder

Pop in Russland: Der zweite Teil von Wladimir Kaminers Russkij-Rock-’n’-Roll-Erzählung

Die erste Regel des russischen Kapitalismus hieß: Man darf nie zu anspruchsvoll sein. Egal, was du verkaufst: Computer aus Amerika oder Pantoffeln aus Vietnam, es zählt nur der Profit.

Schnell haben die großen Geldmacher festgestellt: Mit der Popmusik kann man unter Umständen schneller und mehr verdienen als mit Kunstlederjacken aus der Türkei. Sie fingen an, die Popstars wie am Fließband zu produzieren. Das war nicht schwierig, denn die Jungen und Mädchen mussten ja nicht unbedingt singen oder spielen können. Hübsch sein und Mitleid erregen, mehr nicht. Beim Pop ist es wie mit dem Betteln, sagte mir einmal ein Produzent, „wenn du die Kunden nicht verführen kannst, dann musst du sie zum Mitleid bewegen“.

Deswegen beschränkten sich die Popsongs auf zwei Themen: die Liebe und den Knast. Oder die Liebe im Knast und der Knast der Liebe – solche Dinge waren die absoluten Renner. „Du brauchst nur ein Knastgitter auf das Cover zu zeichnen und ein halbnacktes Mädel dahinter, schon haste die erste Auflage verkauft“, erzählte der Produzent.

Der Markt der Popkultur wurde von Tag zu Tag unübersichtlicher. Dutzende von Nataschas, Annas, Wiktors und Wladimirs sprangen im Fernsehen herum und winkten mit den Händen. Die Popstars unterschieden sich kaum von einander. Doch das störte niemanden. Es hatte sogar einen großen Vorteil: Die Jungs und Mädchen konnten zur Not immer für einander einspringen und keiner merkte etwas.

Groß investieren mussten die Produzenten auch nicht, im Gegenteil: Jeder, der Geld hatte, wollte seine Frau, Tochter oder Geliebte zum Popstar machen. Diese Starmacherei entwickelte sich mit der Zeit zu einem Volkssport unter reichen Russen. Eine ganze Armee von Videoclipproduzenten, Studiobossen, Fernsehteams und Journalisten stand ihnen dabei zur Verfügung.

Auf diese Weise übte der Pop seinen Einfluss auch auf die neue Marktwirtschaft aus: Als der singende Sohn von Sergejew – dem Besitzer der größten Lebensmittelladenkette Russlands – in die Hitparade kam, wurde schlagartig die Wurst teurer. Nachdem Alsu, die Tochter eines Ölmagnaten, es bis in den Grand Prix Eurovision geschafft hatte, stiegen prompt die Ölpreise. Die Popsänger mussten nicht jedes Jahr ihr Publikum mit einer neuen Platte überraschen. Ihr Job war ein anderer: viel reisen, viel im Fernsehen lächeln, viel auftreten.

Die Lieder wurden sowieso immer vom Band abgespielt, während die Sänger auf der Bühne nur den Mund auf und zu machen mussten. Das Publikum war nicht wählerisch. Um eine größere Präsenz zu gewinnen, schafften sich manche Popbands Doppelgänger an. Besonders bemühte sich in dieser Hinsicht die Gruppe „Der kuschelige Mai“, deren Mitglieder laut einer Legende alle uneheliche Kinder von Gorbatschow aus Stawropol waren. Dort hätte er seinerzeit viele wilde Geschichten mit Frauen gehabt, erzählte man sich. Zum Beweis wurde immer wieder ein Foto in den Zeitungen veröffentlicht: Auf dem Bild hielt Gorbatschow den jungen Sänger vom „Kuscheligen Mai“ auf dem Schoß und strich ihm über den Kopf. Die Gruppe „Kuscheliger Mai“ – vier hübsche Jungs, zwischen 12 und 16 Jahre alt, alle mit einem großen Leberfleck auf der Stirn und sehr süß – hatten eine achtfache Doppelbesetzung.

Das ermöglichte der Band, flächendeckend zu arbeiten: In acht verschiedenen Städten gleichzeitig konnten sie acht Konzerte an einem Abend geben. Die Jungs wurden in kürzester Zeit steinreich. Doch die Doppelgänger waren auch nicht blöd. Schnell merkten sie, worauf es ankam, und tourten auf eigene Faust weiter. Dabei behaupteten alle Gruppen, sie seien die einzig echten. Eine Zeit lang gab es acht echte „Kuschelige Mais“ im Land, die sich ständig stritten, miteinander konkurrierten und daran letztlich scheiterten.

WLADIMIR KAMINER