Handel mit tödlichem Ende

Der Bericht einer russisch-schwedischen Kommission erhellt die Motive für die Verschleppung von Raoul Wallenberg. Offenbar wollte Stalin den Diplomaten gegen Sowjetflüchtlinge austauschen

aus Stockholm REINHARD WOLFF

Ein mehr als fünfzigjähriges Rätselraten über den Grund der Verhaftung und späteren Ermordung des schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg scheint zu Ende zu sein. Eine schwedisch-russische Untersuchungskommission wird am 12. Januar ihren Abschlussbericht vorlegen, dessen Hauptinhalt am Mittwoch in Stockholm vorab bekannt wurde. Die Durchsicht von bislang geheimen Archivmaterialien förderte erstmals ein nachvollziehbares Motiv zu Tage, warum Raoul Wallenberg zu Kriegsende vom sowjetischen Geheimdienst in Budapest festgenommen und in sowjetische Gefangenschaft gebracht wurde: Er sollte gegen Flüchtlinge ausgetauscht werden, die Asyl in Schweden gefunden hatten.

Laut den Kommissionsmaterialien, aus denen die Stockholmer Tageszeitung Svenska Dagbladet in ihrer Mittwochsausgabe zitiert, ging Wallenberg in die Planung einer umfassenden, tatsächlich dann aber begrenzten Aktion ein, mit der die Sowjetunion in Budapest befindliche Diplomaten kidnappen wollte, um sie gegen SowjetbürgerInnen auszutauschen. So wurden einen Tag vor Wallenbergs Festnahme zwei Schweizer Diplomaten in Budapest verhaftet: Nach den der Wallenberg-Untersuchungskommission vorliegenden Materialien auf direkten Befehl Stalins hin.

In Moskau angekommen wurden die Schweizer etwa den gleichen Gefangenschaftsbedingungen und Verhörroutinen ausgesetzt, wie sie in Bezug auf Wallenberg bekannt sind. Wie Stockholm bekam auch Bern zunächst keine klare Auskunft aus Moskau über ihr Schicksal. Während Schweden recht untätig blieb, drohte das Schweizer Außenministerium massiv und mehrfach mit einer Verschlechterung der Beziehungen zur Sowjetunion, sollten die zwei Diplomaten nicht freigelassen werden.

Moskau antwortete auf dieses Drängen nach einigem Abwarten mit der Forderung, im Gegenzug einige Flüchtlinge zurückzuerhalten, die in der Schweiz Aufnahme gefunden hatten. In einer dramatischen Verhandlung mit einer in die Schweiz gereisten Sowjetdelegation im Dezember 1945 erklärte sich die Schweizer Regierung zu dieser völkerrechts- wie verfassungswidrigen Aktion bereit.

Sechs russische Flüchtlinge wurden im Januar und Februar 1946 von der Schweiz an Moskau ausgeliefert, im Gegenzug wurden von dort fünf Schweizer, darunter die beiden Diplomaten freigelassen. Bislang unbekannte Dokumente aus Stalins Regierungsarchiv deuten darauf hin, dass Wallenberg offenbar eine ähnliche Tauschfunktion zugedacht war.

Am 15. Juli 1946 traf sich Stalin, der prinzipiell nie Diplomaten empfing, mit dem schwedischen Moskau-Botschafter Staffan Söderblom. Laut den Notizen im Besucherjournal des Kreml brachte Stalin das Gespräch auf Wallenberg, bekräftigte, dass dieser unter sowjetischem „Schutz“ stehe, und wollte von Söderblom wissen, ob man in Stockholm nicht Moskaus „Nachricht“ erhalten habe. Was Söderblom verneinte, woraufhin Stalin abrupt das Gespräch beendete.

Moskau hatte mindestens zweimal klare Signale gegeben, wer die „Tauschobjekte“ für Wallenberg sein sollten. Einmal unmittelbar nach Wallenbergs Festnahme in einem Gespräch, das Botschafter Söderblom mit dem Vizeaußenminister Dekanosow geführt hatte. Zum anderen über seine Stockholmer Botschafterin Alexandra Kollontaj im Februar 1945. Es ging um sechs nach Schweden geflüchtete russische Seeleute, die man ausgeliefert haben wollte.

Warum Schwedens Diplomatie eins und eins nicht zusammenzählen konnte, ist eine neue, aber nicht die einzige Frage, die im Zusammenhang mit vielen erstaunlichen Versäumnissen Stockholms im Fall Wallenberg in Schweden schon lange diskutiert wird. Svenska Dagbladet, dem die neuen Materialien, die am Freitag veröffentlicht werden, vorzuliegen scheinen, schreibt von „gravierenden Angaben“ über das Agieren von Botschafter Söderblom, der jede sowjetische Fühlungnahme im Fall Wallenberg „übersah“. An der anderen Ende der Nachrichtenstrippe zwischen Moskau und Stockholm saß mit Außenminister Östen Undén ein Mann, der „große Unlust“ an der gesamten Wallenberg-Geschichte zeigte, keine Belastung der Beziehungen zu Moskau wollte und gegen jeglichen Menschenhandel war.

Neue Informationen zu Wallenbergs Ende enthält der Kommissionsbericht offenbar nicht. Vermutlich wurde er im Sommer 1947 hingerichtet, nachdem sich seine geplante Rolle als Tauschobjekt nicht verwirklichen ließ.