Der Glaube an Propheten

Analysten prophezeien auch für das Börsenjahr 2001 wieder steigende Kurse am Neuen Markt. Ein Jahresvergleich zeigt: Meist liegen die Prognosen gründlich daneben

BERLIN taz ■ Karl-Eugen Reis ist ein optimistischer Mann. Der Chefanalyst der DG Bank prognostizierte im Dezember einen Anstieg des Nemax bis Sommer auf 8.000 Punkte – ein Plus von über 200 Prozent. Keine andere Großbank war in ihrem Jahresausblick derart zuversichtlich. Commerzbank und Deutsche Bank erstellten erst gar keine Prognose für den Neuen Markt. „Zu wenig Personal“, begründet Commerzbank-Sprecher Dieter Schütz. Nach dem jüngsten Einbruch am Neuen Markt korrigierte auch die DG Bank ihre Voraussage: auf 6.000 Punkte.

Jedes Jahr erstellen Analysten Jahresprognosen. Im vergangenen war selbst die pessimistischste Vorhersage noch zu zuversichtlich. Die Reuschel Bank sah den Neuen Markt zum Jahresende bei 4.950 Punkten. Mit 2.869 wechselte er dann tatsächlich ins neue Jahr. Die Analysten der Banken sagen nicht nur eine Gesamttendenz voraus, sondern geben auch Kaufempfehlungen für Aktien.

„Wer seine Kaufentscheidung mit einem Münzwurf trifft, liegt genauso oft richtig wie ein Analyst“, schimpft Wolfgang Gerke, Professor für Bank und Börsenwesen in Nürnberg. Es war die DG Bank, die noch fünf Monate vor dem Crash von Gigabell eine Kaufempfehlung aussprach.

Optimismus ist Berufsvoraussetzung eines Analysten, glaubt der Vorsitzende der Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre Klaus Schneider. „Sie sind mit den Banken, die an den Kurssteigerungen verdienen verquickt“. Markus Brümmer von der Deutschen Gesellschaft für Finanzanalyse (DVFA) bestreitet die Abhängigkeit der Analysten. „Mitglieder unserer Standesorganisation verpflichten sich zur Unabhängigkeit.“ Gerke gesteht DVFA-Mitgliedern zwar eine gewisse Professionalität zu. „Aber auch die sind vor Torheiten nicht gefeit. Es gibt keine Propheten.“

Genau dieser Annahme unterlägen aber viele Analysten. Der Herdentrieb sei enorm. „Viele beobachten nicht die Realitäten, sondern geben weiter, was ein Börsenguru sagt, der mehrmals richtig lag.“ Das Ergebnis seien sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Weil alle es voraussagen, geht der Kurs nach oben – oder stürzt dramatisch.

Klaus Schneider rät Kleinanlegern statt dem Urteil der Experten lieber dem eigenen Verstand zu trauen. „Gerade bei kleinen Unternehmen ist es unerlässlich selbst zu recherchieren, bevor man die Aktie kauft.“ Kursgewinne wie in den letzten Jahren hält er für absolute Ausnahmen. „Bei jedem, der in diesem Jahr mehr als 15 Prozent Zuwachs verspricht, wäre ich skeptisch.“ Dass derartige Kurzuwächse auch 2001 wieder prophezeit und von Kleinanlegern geglaubt werden, ist für Gerke sicher. „Der Markt vergisst schnell und das Spiel beginnt von vorn.“ RALF GEISSLER