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Kalorien erfolgreich verbrannt

Kartoffeln schälen für die Künstler: Die Tanztage in den Sophiensälen improvisieren gekonnt über den finanziellen Abgrund. Mit dem grausig-komischen Stück „Hopeless Games“ aus St. Petersburg gab es einen ersten Höhepunkt

Grinsend klatschen die Spieler in die Hände, wenn wieder einer von ihnen der Kugel des russischen Roulettes entkommen ist. Doch man hört keinen Ton, und die Lautlosigkeit der ekstatischen Bewegung erschreckt. Mit ihren zu weißen Flecken verschwimmenden Gesichtern und den schwarzen Mänteln erinnert die selbstmörderische Runde weniger an reale Menschen als vielmehr an längst Verstorbene oder einem Stummfilm entsprungene Schatten. Immer ärger treiben sie ihre Spiele auf Leben und Tod, überwinden die Angst mit artistischer Tollkühnheit. Bis sie sich im Übermut ganz aus Versehen erschießen.

„Hopeless Games“ heißt das Stück, das Wolfgang Hoffmann und Sven Till von der fabrik Potsdam zusammen mit Irina Koslova, Alexander Bondarev und Evgenij Koslov vom Do-Theatre St. Petersburg erarbeitet haben. Ihre Ästhetik der romantischen Bescheidenheit lehnen sie dem vom armen Vagabunden an, der mit nichts als einem abgestoßenen Koffer durchs Leben ziehen muss. Hundegebell, Windgeheul und das endlose Vorbeifahren von Zügen, die sie nicht mitnehmen, erzeugen in Videoeinspielungen eine Atmosphäre des Ausgestoßenseins. Zu viel durchgemacht haben diese abgerissenen Figuren, um cool zu sein. Mit liebenswürdigem Charme umwerben sie das Publikum und trösten sich mit Revueeinlagen. Sie sind Flüchtlinge, die auf den Schein des Poetischen nicht verzichten möchten, auch wenn er zerrissen und voller Löcher ist.

„Hopeless Games“ scheut sich vor dem Gemeinen ebenso wenig wie vor dem Sentimentalen. Eben noch hatten sich die fünf eilig, hastig und voll der stolzgeschwellten Erinnerung an ein Leben in Geschäftigkeit gegenseitig mit ihren Koffern aus dem Weg gedrängt, in die Kniekehlen gekeilt und auf den Kopf gehauen, bis sie platt wie Spekulatius den Bühnenboden bedeckten. Dann berauschen sie sich an Traurigkeit, fallen sich abschiednehmend in die Arme, flattern in großen Sprüngen mit den schwarzen Rockschößen wie aufgescheuchte Krähen, drehen das Licht runter und die Bässe auf.

Bei den Tanztagen bekamen die Gäste aus Potsdam und Petersburg begeisterte Resonanz. Ansonsten hat die 1990 gegründete fabrik Potsdam in Berlin bisher kaum ein Echo gefunden. Für Barbara Friedrich von den Tanztagen dagegen bedeutete die fabrik Potsdam durchaus Unterstützung im Hinterland – zum Beispiel mit Übernachtungsmöglichkeiten für Gäste. So was zählt bei der knappen Finanzierung. „Eigentlich könnten wir uns auch das Gastspiel kaum leisten“, sagt Friedrich und schickt ihre Assistentin in die Küche, Kartoffel schälen und die Quiche fertig machen, um den Tänzern, die bestimmt zehn Liter auf der Bühne ausgeschwitzt haben, zur knappen Gage wenigstens ein Essen zu spendieren. Probenzeiten rechnet die Tanztage-Chefin inzwischen routiniert in Schokoriegel um. (Man stelle sich mal vor: Ein Opernintendant sagt seinem Orchester: „Tariflich gibt es leider keine Zulage, aber ich habe eine Gulaschkanone organisiert ...“)

Die deutsch-russische Koproduktion beendet ein Doppelprogramm, das mit zwei Solis begann. Was erwartet man von einer Tänzerin, die im Programmheft zwei Seiten aus Peter Sloterdijk zitiert? Ist es der klassische Anfängerfehler, mit mehr theoretischem Überbau als praktischem Wissen an den Start zu gehen? Denn über ihren Körper schien Juschka Weigel nicht so viel zu wissen, wenn sie sich auf staksigen Beinen in gewichtige Posen warf. Oder interessiert sie gerade, wie man ohne eigene Erfahrung fremden Bildern ausgeliefert ist? Solche Vagheit muss der Besucher der Tanztage, die sich ausdrücklich als Bühne des Ausprobierens verstehen, gelegentlich aushalten. Dass es trotzdem gerammelt voll ist, kann man nur als das kleine Wunder dieser Programmreihe sehen.

KATRIN BETTINA MÜLLER

10. Tanztage, bis 17. Januar in den Sophiensälen, Sophienstr. 18, Mitte

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