Friedhofstourismus

Auf dem Kirchhof der Georgen- und Parochial-Gemeinde in Prenzlauer Berg liegen bekannte Theaterregisseure und Berliner Industriellenfamilien: Rosemarie Köhler schreibt Notkochbücher und organisiert kulturhistorische Stadtspaziergänge. Manchmal sind Ahnenforscher dabei. Und Besserwisser

Friedhöfe sind das Gedächtnis der Stadt, deren Wissen nicht verloren gehen soll

von JAN BRANDT

Vor dem Eingang des Friedhofs an der Greifswalder Straße haben sich zwölf Leute versammelt. Sie stehen in einigem Abstand, warten, dass endlich was passiert, und reiben sich die Hände. Es ist kalt an diesem Sonntag. Eine Frau schaut auf die Uhr und sagt: „Kommen Sie doch näher. Ich heiße Rosemarie Köhler, bin Journalistin, habe zwei Bücher über Berliner Friedhöfe geschrieben und werde das auch weiterhin tun.“

Rosemarie Köhler hat eine rote Nase und trägt einen blauen Mantel mit der Aufschrift: „frost guard“, aber sie ist nicht hier, um die Besucher vor der Kälte zu schützen, sondern um ihnen etwas über den Kirchhof der Georgen- und Parochial-Gemeinde in Prenzlauer Berg zu erzählen. Sie schlägt eine Mappe auf und erklärt, dass es sich um einen der ältesten Friedhöfe der Stadt handelt, der neuerdings wieder belegt wird und sich „wegen seiner eindrucksvollen Grabanlagen für die anonyme Bestattung großer Beliebtheit“ erfreut. Dann legt sie die Geschäftsbedingungen fest: „Wenn Sie teilnehmen wollen, bekommen Sie eine Eintrittskarte und ich zwölf Mark.“

Ein Mann mit Schlapphut will wissen, ob es auch eine Ermäßigung gebe, aber Rosemarie Köhler schüttelt den Kopf und verteilt die Informationsbroschüren. Als alle bezahlt haben, sagt sie: „Dieser junge Mann ist von der taz und wird uns bei dem Spaziergang begleiten, wenn Sie nichts dagegen haben.“

Ein Mann mit einem schwarzen Mantel rückt seine Brille zurecht und sagt: „Daran haben Sie gut getan, denn ich habe nur negative Erfahrungen mit der taz gemacht, beruflicher Art.“ Der Mann mit Schlapphut pflichtet ihm bei, und bevor die anderen auch noch etwas sagen können, stellt sich Rosemarie Köhler in die Mitte. „Heute ist Sonntag“, sagt sie, „da decken wir alles mit dem Mantel der Nächstenliebe zu.“ Dann geht es los. Rosemarie Köhler erzählt von Franz Wallner, dem „Vater des Regietheaters“, dessen Grab sich gleich am Anfang befindet. Mit wenigen Worten umreißt sie sein Leben und Werk. Sie will die Zuhörer nicht mit Namen und Zahlen überfordern, zeigt stattdessen noch ein Bild von Wallners Frau und klappt die Mappe zu. Es geht weiter. Sie führt die Gruppe den Berg hinauf, vorbei an alten, von Efeu überwachsenen Gräbern. Dort steht „Auf Wiedersehen“ oder „Selig sind die Todten“. Manche Leute, sagt Rosemarie Köhler, hätten aber auch ganze Visitenkarten auf ihren Gräbern hinterlassen. Wie die Familie Zeitler, die auf ihrem Mausoleum einen Text anbringen ließ, der Aufschluss über die Entstehungsbedingungen der Grabanlage gibt. Am Schluss heißt es: „Neue Gesetze entstanden. Die Beurkundung von Geburt, Hochzeit und Tod ging von der Kirche auf den Staat über. Ein Strafgesetzbuch für alle Deutsche. Ein bürgerliches Gesetzbuch erst 1900.“ Jemand will wissen, was das soll. Da tritt der Mann im schwarzen Mantel nach vorne und gibt eine Nachhilfestunde in deutscher Geschichte, er redet von Adel, vom Ständesystem und davon, dass Deutschland bis 1871 aus vielen Territorien bestanden habe. Seine Brille ist ihm beim Sprechen auf die Nasenspitze gerutscht. Jetzt schiebt er sie wieder nach oben und sagt: „Das wissen die jungen Leute ja heute gar nicht mehr.“

Rosemarie Köhler ist schon auf dem Weg zum nächsten Grab, dem größten Berlins, einer Art Tempel, von Säulen umgeben. Es gehörte der Familie Pintsch, die ein Gaswerk besaß, das Oskar-Helene-Heim in Zehlendorf stiftete und eine „moderne elektrische Christbaumbeleuchtung“ entwickelte, wie es in einer zeitgenössischen Anzeige heißt. Schräg gegenüber befindet sich eine Anlage, die an ein Kriegerdenkmal erinnert. Aber die meisten der Verstorbenen sind erst vor kurzem beerdigt worden.

„Heute ist Sonntag, da decken wir alles mit dem Mantel der Nächstenliebe zu“

Rosemarie Köhler erklärt, dass es sich um ein Urnengrab handelt und die Angehörigen so einen Ort zum Trauern haben, ohne sich um die Grabpflege kümmern zu müssen. Der Spaziergang endet vor dem Grab der Familie Ende. Der Mann im schwarzen Mantel gibt Rosemarie Köhler ein Trinkgeld und seine Visitenkarte, damit sie ihm das Programm der nächsten Führungen schicken kann. Und der Mann mit dem Schlapphut will wissen, ob Frau Köhler berühmte Ahnen habe, er heiße nämlich auch Köhler und betreibe persönliche Forschungen, habe den Stammbaum bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt, sei nun aber stecken geblieben. „Bei uns ist keiner berühmt“, sagt Rosemarie Köhler, „wir sind bescheiden.“

Später im Café sagt sie, dass sie fünf der zwölf Teilnehmer gekannt habe, und dass sie manchmal aufpassen müsse, was sie sagt: „Es gibt immer Besserwisser oder promovierte Historiker, aber die meisten wollen sich einfach nur etwas erzählen lassen.“

Für Rosemarie Köhler sind die Friedhöfe das Gedächtnis der Stadt, und sie organisiert die Führungen, damit dieses Wissen nicht verloren geht. Viel Geld verdient sie mit den Spaziergängen nicht. Sie hat eine halbe Stelle im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Akademie der Künste. „Als Grundlage für die halbkreative Arbeit“, wie sie sagt. Gerade sei sie „auf dem Trip der Bücher“. Im letzten Jahr erschien bei Eichborn Berlin das Berliner Notkochbuch „Brennesselsuppe und Rosinenbomber“, vor kurzem hat sie ein sächsisches Notkochbuch nachgelegt und arbeitet derzeit an einem rheinischen und einem bayrischen, für das sie wieder Rezepte, Tagebucheintragungen und Zeitungsartikel aus den Jahren 1945 bis 1949 zusammengetragen hat. „Ich bin neugierig auf die Welt“, sagt sie noch, dann nimmt sie ihre Sachen und steht auf. „Für heute habe ich genug geredet.“