Der Tod kam am Nachmittag

Der britische Arzt Shipman hat 236 Menschen ermordet. Warnzeichen wurden missachtet. Nun will die Regierung Maßnahmen zur Kontrolle der Ärzte verabschieden

DUBLIN taz ■ Am liebsten mordete er am Nachmittag. Der praktische Arzt Harold Shipman aus dem englischen Manchester soll im Laufe von 24 Jahren mindestens 236, vielleicht sogar 345 seiner Patienten umgebracht haben. Damit wäre er der schlimmste Serienmörder der Geschichte. Das kam bei einer Untersuchung heraus, deren Ergebnisse am Wochenende veröffentlicht wurden. Shipman ist im vorigen Jahr zu 15-mal lebenslänglicher Haft verurteilt worden, weil ihm nachgewiesen wurde, dass er 15 Patientinnen mit Diamorphin-Injektionen ermordet hatte. Woher er die großen Mengen Diamorphin bezog, konnte die Untersuchung nicht herausfinden.

Der Bericht von Richard Baker, Medizinprofessor an der Universität Leicester, lässt kein gutes Haar an der medizinischen Aufsichtsbehörde. Sie habe eine Reihe von Warnzeichen missachtet. So war Shipman bei 20 Prozent der Todesfälle anwesend. Die durchschnittliche Rate liegt dagegen bei weniger als einem Prozent. In 80 Prozent der Sterbefälle sind Verwandte zugegen, bei Shipman lag die Zahl um die Hälfte niedriger. Besonders ungewöhnlich war die Todeszeit: Mehr als die Hälfte von Shipmans Patienten starben am Nachmittag, während normalerweise die Todeszeiten gleichmäßig über den Tag verteilt sind. Die meisten seiner Opfer waren ältere Frauen.

Shipmans Aktivitäten kamen nur deshalb heraus, weil er das Testament einer Patientin gefälscht hatte. Geld war jedoch nicht sein Motiv. Das Testament war so ungeschickt geändert, dass Psychologen glauben, Shipman wollte gefasst werden. Er selbst schweigt seit seiner Verurteilung im vorigen Januar. Einen neuen Prozess gegen Shipman wird es nicht geben. Eine faire Verhandlung mit unvoreingenommenen Geschworenen sei aufgrund der Presseberichte nicht möglich, sagte die Staatsanwaltschaft.

Baker sagte nach der Veröffentlichung seines Berichts: „Als Arzt bin ich wütend, dass jemand das Vertrauen von Menschen ausgenutzt hat, die vollkommen auf ihn angewiesen waren.“ Besonders empört sei er, dass Shipman mehr als 20 Jahre lang unbehelligt morden konnte. Es gab in dieser Zeit zwei Beschwerden gegen ihn, doch die Lizenz wurde ihm von der Aufsichtsbehörde erst am Tage seiner Verurteilung entzogen.

Baker gab sieben Empfehlungen, um Ärzte besser überprüfen zu können. So sollen Todesfälle, medizinische Akten, das Verschreiben von Medikamenten sowie die Vernichtung der Akten nach dem Tod des Patienten routinemäßig überwacht werden. Sterbeurkunden, so fordert Baker, müssen die Todesumstände sowie den klinischen Krankheitsverlauf enthalten. Ärzte, die keine genauen Krankenakten führen, soll die Zulassung entzogen werden. Verabreicht ein Arzt ein verschreibungspflichtiges Medikament, soll er die Seriennummer in die Akte eintragen.

Der Chefmediziner der britischen Regierung, Liam Donaldson, sagte, man werde Bakers Empfehlungen berücksichtigen. Premierminister Tony Blair deutete gestern an, dass seine Regierung bereits heute Maßnahmen verabschieden wird, die eine bessere Kontrolle praktischer Ärzte ermöglichen. „Wir sind entschlossen, alles zu tun, um die Patienten durch ein Kontrollsystem zu schützen, das sowohl schneller als auch effektiver für die Patienten und fairer für die Ärzte ist “, sagte er. So soll eine neue Kontrollinstanz gegründet werden, weil die medizinische Aufsichtsbehörde im Fall Shipman versagt hat. Dieser neuen Instanz soll künftig jeder Todesfall gemeldet werden. Darüber hinaus müssen sich praktische Ärzte jedes Jahr einer Art TÜV unterziehen. Außerdem sollen allein praktizierende Ärzte zur Kooperation untereinander verpflichtet werden, was eine gegenseitige Kontrolle erleichtern würde. RALF SOTSCHECK