Dissertationen müssen umziehen

In der Kirche St. Johannes Evangelist in Mitte lagert komprimiertes Wissen: 850.000 Doktorarbeiten der Humboldt-Universität. Doch der Gemeinde reicht die Miete nicht. Jetzt will sie das Gotteshaus anders nutzen. Wie, ist aber offen

Zwischen zwei frisch sanierten Häusern klemmt in der Auguststraße in Mitte die Kirche St. Johannes Evangelist. Aus rotem Backstein ragt der schmale, hohe Giebel in neoromanischem Stil in die Höhe. Doch hinter dem vergitterten Portal findet schon seit Jahrzehnten kein Gottesdienst mehr statt. Stattdessen lagert in der Kirche komprimiertes Wissen: 850.000 Dissertationen der Humboldt-Universität füllen den Raum bis unter die Decke.

Seit 1979 nutzt die Universität die Kirche als Lager. Doch noch in diesem Jahr sollen sämtliche Doktorarbeiten die Kirche verlassen. Die Kirchengemeinde hat das Mietverhältnis, bei dem die Universität nur 50 Pfennig pro Quadratmeter zahlte, gekündigt und überlegt sich nun, wie sie den 500 Quadratmeter großen Raum mitten im touristischen Herzen Berlins nutzen will.

Interessenten, die den 100-jährigen Sakralbau als Comedy-Theater oder Restaurant mieten wollen, gebe es genug, sagt Pfarrer Hartmut Scheel von der zuständigen Sophien-Gemeinde. Damit könnte die Gemeinde monatlich rund 30.000 Mark Miete einnehmen. „Doch die Verlockung, etwas Eigenes zu gestalten, zum Beispiel ein Kirchencafé mit kulturellem Programm, ist groß“, so der evangelische Theologe.

Er hat in seiner Gemeinde eine Gruppe interessierter Menschen, darunter Künstler und Wirtschaftsexperten, zusammengetrommelt. Diese sollen nun ein Konzept erarbeiten. Außer dem Verkauf habe der Gemeinderat alles erlaubt, was kein zusätzliches Geld kostet. Die Kirchengemeinde, erklärt Scheel, bestehe zum größten Teil aus neu zugezogenen Mitgliedern. Die meisten davon sind junge Berufstätige ohne Kinder, „die selbst, wenn sie am Gottesdienst interessiert sind, sonntags nicht um halb zehn Uhr aufstehen wollen“.

Für sie könnte eine Nachmittagsandacht mit anschließendem Kaffetrinken in dem hellen, durch drei Glaskuppeln beleuchteten Kirchenraum das richtige Angebot sein, überlegt der Pfarrer. Doch dazu müssten Toiletten und Beleuchtung eingebaut und Fluchtwege geschaffen werden. Das wiederum ist der Gemeinde zu teuer.

Ideen für ein Nutzungsprogramm gibt es reichlich, nicht zuletzt von den zunehmend prominenten Gemeindemitgliedern im regierungsnahen Bezirk. Die scheidende Geschäftsführerin des Jugendmusikkanals MTV in Deutschland, Christiane zu Salm, wolle demnächst in seine Gemeinde ziehen, sagt der Pfarrer. Sie habe in einem Brief Lesungen für die evangelischen Jugendlichen angekündigt. „Es wird also spannend“, freut sich Scheel. In einem Jahr, hofft er, wird von der neuen Nutzung des roten Backsteinbaus der Kirche St. Johannes Evangelist schon etwas zu sehen sein.

SABINE RIETZ, EPD