: „Eine kafkaeske Situation“
Walter Rothschild war bundesweit der einzige liberale Gemeinderabbiner – bis zur Entlassung. Er sieht sich als Opfer von Schreibtischtätern. Die größte Angst in der Gemeinde gebe es vor anderen Juden
Interview PHILIPP GESSLER
taz: Rabbiner Rothschild, haben Sie sich schon überlegt, von was Sie in den kommenden Monaten leben werden?
Walter Rothschild: Das ist kein Problem: Die Gemeinde hat, sehr großzügig, sich entschlossen, mich dafür zu bezahlen, dass ich nicht arbeite. Wir haben die nächsten Monate genug Geld für das normale Leben, nicht für große Urlaube.
Sie waren schon beim Arbeitsamt: Sind Sie als liberaler Rabbiner vermittelbar?
Oh, interessante Frage – das hängt ab vom Markt. In der Arbeitssuchenden-Statistik für 2001 wird es eines Posten geben – „Rabbiner: 1“
Sie haben bisher aus Loyalität zu Ihrem Arbeitgeber zu den eigentlichen Gründen Ihrer Entlassung geschwiegen: Es war ein Abschied im Zorn. Warum mussten Sie gehen?
In dieser Gemeinde haben die Rabbiner keine Stimme. Das ist eines der größten Probleme. Sie sind nicht in den entscheidenden Gremien, bekommen so gut wie keine Papier und sitzen in der „Repräsentantenversammlung“, dem Gemeindeparlament, abseits. Man hat die wichtigen Leute, die alles entscheiden – und man hat die Rabbiner.
Aber das kann nicht der wahre Grund sein, weswegen Sie ihre Arbeit verloren haben.
Aber das ist ein Teil davon. Es gibt immer Gerüchte über das Verhalten der Rabbiner. Derzeit gibt es kein Gremium, in dem das diskutiert werden kann. Im Februar und März haben diese Repräsentanten über mein Schicksal und das des Rabbinats entschieden, ohne mich zu befragen.
Jetzt, da Sie nicht mehr angestellt sind: Was wurde Ihnen wirklich vorgeworfen?
Ich weiß es nicht. Und es steht auch nicht in den Protokollen. Wir reden hier von einer total undemokratischen und unmenschlichen Version eines stalinistischen Prozesses. Wenn meine Quellen stimmen, sagte der Gemeindevorsitzende in einer geschlossenen Sitzung: Er könne mit diesem Rabbiner nicht mehr arbeiten. Sie müssten ihn entlassen. Und alle elf noch anwesende Repräsentanten haben bloß ja gesagt – ohne mich auch nur anzuhören.
In einem Brief an die Repräsentanten vergleichen Sie sich mit Juden, die in der Nazizeit aus Berlin vertrieben wurden – wer sind denn dann die Nazis?
Ich weiß, das ist ein Tabu in Deutschland: Es gab aber hierzulande in der Nazizeit viele Schreibtischtäter, nicht Nazis: Sie haben durch einen Stempel hier, ein Papier dort das Leben anderer beeinflusst. Ich fühle mich wie ein Opfer von einem System, in dem es keine Regeln gibt. Es kann auch stalinistisch oder DDR-isch sein: Man öffnet den Mund, und plötzlich ist man unterdrückt, ohne zu wissen, warum. Es ist eine kafkaeske Situation. Wir sind abhängig von einer Organisation, die über mein Leben, meinen Ruf, meine Wohnung, die Schule meiner Kinder, meine Rente ... über alles verfügt. Sie können alles zerstören, wenn sie wollen.
Geben Sie sich selbst keinerlei Schuld bei diesem Scheitern?
Bei diesem Scheitern: Nein. Jeder Mensch kann Fehler machen, wenn er in ein neues System kommt. Hier und dort habe ich vielleicht einen falschen Ausdruck, einen Protokollfehler gemacht – okay, warum nicht? Ich bin kein Heiliger. Aber das war nicht der Grund. Wenn es um das Scheitern einer Karriere geht, habe ich ein total reines Gewissen.
Sie erwarten Hilfe von den Repräsentanten, verprellen Sie aber, indem Sie sagen, dass man diese fast nie im Gottesdienst sieht.
Fakt ist: Mein Arbeitgeber, die Jüdische Gemeinde zu Berlin, hat keine Zeit gefunden, über den Konflikt oder andere Lösungen zu reden. Die Repräsentanten haben ihre Pflicht zum Schutz dieser Gemeinde nicht erfüllt.
In Leeds, einer ihrer früheren Stellen, haben sie elf Jahre lang zum Teil gegen die eigene Gemeinde gekämpft: Fehlt es Ihnen an sozialer Kompetenz?
Moment! Ein General muss kämpfen, wenn nötig. Ein Rabbiner ist wie ein General: Er führt eine ganze Gemeinde. Er muss sagen, was richtig ist und was nicht. Wenn er etwas sieht, was nicht richtig ist, soll er etwas tun. Ich bin kein kämpferischer Mensch nur aus Spaß. Ich arbeite lieber mit Menschen als gegen sie.
Sie sagen, die Jüdische Gemeinde wird keinen neuen liberalen Rabbiner finden, der Deutsch kann.
Einen jungen, dynamischen nicht. Es gibt nicht so viele Rabbiner auf dieser Welt. Ich bin in E-Mail-Kontakt mit Kollegen in Australien, Süd- und Nordamerika, in anderen europäischen Ländern. Sie haben in den Zeitungen gelesen, was hier passiert ist. Manche Rabbiner hier in Deutschland sind bereit, für Geld fast alles zu tun. Sie amtieren in einer liberalen Gemeinde, obwohl sie eigentlich orthodox sind. Sie sind in einer Synagoge mit Orgel und gemischtem Chor und sagen dann, sie haben das nicht gehört.
Hat Ihre Entlassung mehr als regionale Bedeutung: Ist es ein Schlag für das liberale Judentum in ganz Deutschland?
Ja. Denn hier hatte ich die Möglichkeit, innerhalb des Systems etwas zu erreichen. Als Mitglied der Rabbinerkonferenz, als Besucher der Sitzungen des Zentralrates der Juden in Deutschland. Kein anderer liberaler Vertreter wird dazu eingeladen. Hier hatte ich die Möglichkeit, innerhalb des Systems eine Brücke zu sein zwischen den zwei Welten.
Ist Ihnen das gelungen?
Ich glaube schon. Berlin war so lange eine Insel, dass die Leute keine Ahnung haben, was in der jüdischen Welt passiert. Berlin ist die einzige Gemeinde in Deutschland, die eine Full-Time-Stelle für einen nichtorthodoxen Rabbiner hat. Alle anderen so genannten Einheitsgemeinden sind orthodoxe Gemeinden, die anderen internen Gemeinschaften ab und zu mal erlauben, was zu tun – aber ohne Unterstützung.
Sie haben der Berliner Gemeinde vorgeworfen, Religion sei ihr nicht das Wichtigste – wie meinen Sie das?
Wir haben etwa 12.000 Mitglieder – aber auch an hohen Feiertagen, bei denen fast jeder kommen sollte, sind die sechs Synagogen, von denen nur zwei mehrere hundert Leute aufnehmen können, nicht voll. Man wird nie mehr als, geschätzt, 1.500 Beter auf den Bänken finden.
Sie prophezeien, in drei, vier Jahren wird die Gemeinde gespalten sein – wie kommen Sie darauf?
Ich sage das nicht aus Freude. Ich finde das Prinzip der Einheitsgemeinde richtig. Aber dann müssen alle Gemeindemitglieder in ihr auch unterstützt werden, so weit das möglich und nötig ist. Sie sollen die gleichen Rechte haben, ihre Art der Religion zu praktizieren – man kann hunderte verschiedene Versionen finden. Zurzeit haben die Beter von drei oder mehr Synagogen das Gefühl, dass niemand sich ihre Probleme anhört. Sie fühlen sich vernachlässigt. Eine neue Generation ist hier, die etwas Neues haben will. Wenn die Gemeinde nicht in der Lage ist, ihnen anzubieten, was sie brauchen, dann werden sie das irgendwo anders suchen. Das bringt viel Stress und viele Schwierigkeiten mit sich.
Aber immerhin: Die Union progressiver Juden in Deutschland wächst jedes Jahr, organisiert sehr erfolgreiche Tagungen, hat einen eigenen Verlag gegründet und ihr eigenes Rabbiner-Seminar.
Wie sieht Ihre Zukunft aus? Wollen Sie in Berlin bleiben?
Aus verschiedenen Gründen: Wir sind hier glücklich, die Kinder sind glücklich. Aber wichtig für mich: Ich sehe hier so viel Arbeit zu tun. Ich hatte das Gefühl vor zweieinhalb Jahren, dass meine ganze Karriere, mein ganzes Leben hierher geführt hat. Das war ein Gefühl, schwer zu erzählen, von Schicksal.
Hier gibt es etwas zu tun, hatte ich das Gefühl, hier will der Chef (deutet mit einem Finger nach oben) mich haben. Ich verstehe nur nicht, warum der Chef das so schwierig gemacht hat. Aber Abraham hatte das gleiche Problem: Gott hat ihn auf die Probe gestellt. Vielleicht ist das ja eine Probe für mich – und für die Gemeinde: Können wir durch diesen idiotischen persönlichen Konflikt kommen, damit wir hier etwas aufbauen können? Dazu will ich gern etwas tun, innerhalb des Systems. Wenn möglich.
Sind Sie zu einer weiteren Zusammenarbeit mit der Gemeinde bereit?
Ich will den Juden in Berlin dienen. Das ist immer das Problem beim Rabbinat: Man muss dienen und verdienen. Ich bin bereit, Kompromisse zu schließen, aber ich will in einer Gemeinde arbeiten, in der es keine Angst voreinander gibt. Vergessen Sie den ganzen Mist über „Rechtsextremismus dort draußen“: Die größte Angst innerhalb der Gemeinde kommt von anderen Juden.
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