Alltag in der NS-Zeit

Historiker befragen Zeitzeugen über ihr Leben zwischen 1933 und 1945 in Reinickendorf. „Da klafft eine Lücke“

„Ich hätte nicht gedacht, dass so viele von ihrer Vergangenheit erzählen wollen“, sagt Historiker Henning Müller. Mit mehr als 20 Zeitzeugen haben er und seine beiden Mitarbeiter bereits über das Leben zwischen 1933 und 1945 in Reinickendorf gesprochen. Und immer neue kommen hinzu. Müller hofft, dass sich aus den Beschreibungen ein lebendiges Bild der Vergangenheit abseits der offiziellen Geschichtsschreibung zusammensetzen lässt. Der Stadtbezirk hat im vergangenen Sommer die beim Heimatmuseum angesiedelte Arbeitsgruppe initiiert.

Manche der Frauen und Männer brechen mit ihrem Bericht ein jahrzehntelanges Schweigen. Einer der ersten Zeugen war ein Lkw-Fahrer, der mit einer zerfledderten Ledermappe unter dem Arm das Büro betrat. „Es war unglaublich“, erinnert sich Müller, „darin steckten lauter vergilbte Dokumente, die nach dem Krieg Leben retten konnten.“ Darunter befand sich zum Beispiel eine Bestätigung, dass der Mann Zwangsarbeitern geholfen hatte. Zwangsarbeit für Berliner Rüstungsbetriebe leisteten beispielsweise Juden und Oppositionelle, die in der Reinickendorfer Außenstelle des Konzentrationslagers Sachsenhausen interniert waren.

„In Reinickendorf klafft eine große Lücke in der Geschichtsschreibung über den Zeitraum“, sagt Müller. Fast alle anderen Bezirke könnten bereits detaillierte Veröffentlichungen vorweisen. Die Arbeitsgruppe plant deshalb in Zusammenarbeit mit dem Heimatmuseum eine Dokumentation, in der Zeitzeugen zu Wort kommen. Dokumente und Daten aus der NS-Zeit sollen das geschichtliche Bild abrunden. Möglicherweise entsteht auch ein Gedenkbuch über die jüdischen Opfer des Stadtbezirks.

„Oft sind das Leute, die aktiven Widerstand geleistet, aber das nicht an die große Glocke gehängt haben“, erklärt der Forscher. Dies trifft auch auf Wilhelm Daene zu. Als Werkmeister in einem „kriegswichtigen“ Rüstungsbetrieb konnte er etliche Juden vor Verfolgung und Ermordung retten. In der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem in Israel wurde er für sein Engagement als „Gerechter der Völker“ geehrt. In Reinickendorf erinnert dagegen noch nicht einmal eine Straße an ihn.

RICHARD RABENSAAT, EPD