Glücklich sein!

Das ist doch die Hauptsache. Oder?

von JÜRGEN MEIER

„Sind Sie glücklich?“ „Aber natürlich!“ oder „Ja, im Prinzip schon!“, lauten die meisten Antworten. Denn wer nicht glücklich ist, der macht irgendetwas falsch, dessen Tag ist nicht richtig durchorganisiert, der lebt irgendwie chaotisch, ohne Struktur oder ohne „Lebensplan“. Der Unglückliche ist ungeeignet für flexible Anpassung, für kreative Geschäfte. Er ist zu sehr mit sich beschäftigt.

Das Ergebnis von Untersuchungen, die Runt Veenhoven von der Erasmus-Universität Rotterdam aus aller Welt zu einer Glücksdatenbank („World Database of Happiness“) zusammenträgt, macht die permanente Glückssuche als Selbstzweck des modernen Menschen deutlich. Folgt man Forschungen der „Glücksinstitute“, deren Zahl in Europa und Amerika ständig steigt, so sind Menschen in Asien und Afrika im Durchschnitt am wenigsten, in den europäischen und amerikanischen Ländern am meisten glücklich. Im internationalen Vergleich sind die Schweizer mit 8,21 Punkten SpitzenreiterInnen in Sachen Glück. 29 Prozent der Befragten gaben eine Zehn (Werteskala von Null bis Zehn) zu Protokoll. Der Glücksforscher Ed Diener von der University of Illinois, USA, kam zu ähnlichen Ergebnissen. In seinen Untersuchungen bilden die Isländer und Dänen gemeinsam mit den Schweizern das Spitzentrio.

Alfred Bellebaum, Universitäten Koblenz und Bonn, gründete 1990 ein deutsches Institut für Glücksforschung in Vallendar. Er fand heraus, dass sich 53 Prozent der Deutschen als glücklich bezeichnen. „Wenn das Streben nach Glück zu einem Menschenrecht erklärt wird, dann bedeutet das eine erhebliche Aufwertung menschlicher Freiheit“, so Bellebaum. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 ist vom Pursuit of Happiness, dem Streben nach Glück, die Rede. „Diese Bestimmung“, sagt Bellebaum, „ist einzigartig in der Welt und ein fester Bestandteil der amerikanischen Mentalität.“

Bruno S. Frey, „Glücksforscher“ und Ökonom an der Universität Zürich, kommentiert diese Forschungsergebnisse: „Je direkter und demokratischer die Mitbestimmungsmöglichkeiten sind, desto zufriedener sind die Leute.“ Mitbestimmung, so Frey, vermittelt den Menschen die Vorstellung, selbst verantwortlich für die Erfüllung ihrer Ziele, also für ihr Glück, zu sein: Jeder ist seines Glückes Schmied! Wo demokratische Mitwirkung des Volkes durch diktatorische Eingriffe verhindert wird, kann sich diese Vorstellung nicht entwickeln. Daran ist letztlich die DDR gescheitert, die Ziele von oben mittels personifizierter Parteiengewalt festsetzte und die hinter dem Stacheldraht stets mit einem Deutschland konfrontiert war, in dem die Menschen glücklich sein durften. Das Recht der Menschen auf Glück, also auf selbst gesetzte Ziele, zählte im Westen viel, im Osten wenig.

Wenn es um die Verteidigung und Erkämpfung von Menschenrechten geht, dann ist das Streben des Menschen nach Glück gewollt. Der einzelne Mensch soll mündiger Kunde, Bürger, Mitarbeiter, Teamchef sein. Keines der Menschenrechte, auch das Glück nicht, „geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seinen Privatwillen zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist“ (Marx).

Der glückliche Mensch ist der egoistische Mensch. Er passt sich in einer bürgerlichen Gesellschaft ein, in der die ökonomischen Interessen – anders als die Diktatoren oder Fürsten – im Hintergrund als prägende Kategorie unserer Gesellschaft den Einzelnen so in ihrer freiheitlichen Markt-, Arbeits- und Leistungsorientierung einweben, dass er stets die Vorstellung des freien Leistungsanbieters von Fähigkeiten, Ideen und Arbeitskraft hat. Er bietet sich dem Markt, den sachlichen Gewalten, an, die an die Stelle persönlicher Gewalten getreten sind. Der Mensch der bürgerlichen Gesellschaft ist ein glücklicher Mensch, dessen Ziele egoistische und ganz private Ziele sind, die sich aus der Ökonomie selbst ergeben.

Der glückliche Mensch schaltet diese webenden Hintergründe der Ökonomie ab. Es interessiert ihn am Pool in der Türkei nicht sonderlich, ob er von Menschen bedient und hofiert wird, deren Familien im Elend leben. Er will gar nicht so genau wissen, ob das T-Shirt bei „H&M“ durch Kinderarbeit in der Dritten Welt entstand. Er selbst ist Setzer seiner privaten Ziele, also seines Glückes Schmied. Die Gesellschaft besteht für ihn nicht aus menschlichen Beziehungen, sondern aus einzelnen Individuen. Da muss jeder sehen, wie er klarkommt. Er will oben sein, nicht unten. Er will Chef sein, nicht Vasall. „Und hat er Glück, so hat er auch Vasallen.“ („Faust II“, Mephisto)

Glück ist geglücktes Ziel. Glück, dessen altsprachliche Bedeutung („gelucke“) Festsetzung, Bestimmung, Beschluss war, beschreibt die Erreichung eines gesetzten Zieles. Da nur Menschen in der Lage sind, sich Ziele zu setzen, darf man unterstellen, dass nur sie glücklich oder unglücklich sein können. Erreichen wir das gesetzte Ziel, so sind wir glücklich. Erreichen wir es nicht, weil wir auf dem Weg zum Ziel verunglücken, so sind wir unglücklich. „Glück auf!“ sagt der Bergmann. Sein Ziel: Die Fahrt in die tiefen Stollen des Berges soll wieder noch oben führen: Auf! Dann ist sie geglückt. Nur welchen Inhalt sein Ziel prägt, das ist am geglückten Ziel gleichgültig. Kohle dient für vielerlei. Mit ihr brannten die Öfen in Auschwitz, die Kessel der an die Front fahrenden Lokomotiven, das Waisenhaus der Kriegsopfer. „Die Wahrheit“, so Bacon, „hängt nicht von dem Glück einer bestimmten Zeit ab, was veränderlich ist.“

Der eine schätzt sich glücklich, die Bankfiliale unentdeckt ausgeraubt zu haben, ein anderer, weil er einer Bankfiliale als Filialleiter vorstehen darf. Beide können „glücklich sein“. Wer dagegen „Glück hatte“, bei dem stellte nicht die eigene Handlung die Weichen zum Ziel, sondern der Zufall. Die „Glücksfee“ zog die „Glückszahlen“. Wir hatten Glück. Unser Ziel, viel Geld zu gewinnen, wurde uns vom Zufall geschenkt, nicht durch unsere eigene Aktivität.

Nach dem Unglück: „Unser Leben hat sich verändert.“ Ein Autounfall verursachte bei dem dynamischen und sprachgewandten Manager ein Schädelhirntrauma. Danach war alles anders. Eine halbseitige Lähmung und schwere Sprachstörungen katapultierten den erfolgreichen Mann aus dem Berufsleben. Sein Tagesprogramm füllte sich mit Aktionen, die er vor dem Unfall ohne Überlegung ausgeführt hatte: Körperpflege, essen, anziehen, sprechen, sich bewegen. Für alles braucht er fremde Hilfe. Ein Unglück, bei dem wir das angestrebte Ziel einer Autofahrt oder einer Arbeit nicht nur nicht erreichen, sondern das unsere körperlichen Möglichkeiten völlig reduziert, verändert unser Leben genauso plötzlich wie zum Beispiel ein Schlaganfall. Die körperlichen Möglichkeiten stimmen nicht mehr mit den Zielen überein, die wir uns vor dem Unglück gesetzt hatten. Das macht nicht nur den Verunglückten unglücklich, sondern auch seine Angehörigen, die über längere Zeit mit ihm gleiche oder zumindest ähnliche Ziele verfolgten.

Plötzlich ist alles anders. Ihm muss geholfen werden. Er kann weder sprechen noch Auto fahren. Alles hatte sich in der Vergangenheit auf das Erreichen seiner Ziele eingestellt. Von heute auf morgen ist er behindert, die Ziele zu erreichen, die für einen normalen Menschen eine Leichtigkeit sind. Kein lallender, torkelnder Mann, dessen eine Gesichtshälfte schlaff nach unten hängt, wird von einer Großbank im Kundendienst eingesetzt. Auch für die Öffentlichkeitsarbeit eines Konzerns oder für dessen Außendienst ist dieser Mann ungeeignet, und Mitarbeiter als Teamchef zu motivieren, kommt auch nicht in Frage.

Vor dem Unglück hätte er alles gekonnt. Schnell machte er sich die Ziele des jeweiligen Unternehmens, für das er arbeitete, zu eigen. Jetzt sind seine Ziele nicht mehr identisch mit den Zielen seiner Firma. Da er sich aber durch deren Ziele identifizierte, hat er keine Ziele mehr. Er ist unglücklich und bleibt es, oder er beginnt sich eigene Ziele zu setzen, die andere sind als vor dem Unglück. Seine Frau wird ihn entweder verlassen, weil sie die Veränderung seiner Ziele nicht tragen will, oder auch sie verändert ihre Ziele. Unglücklich sein ist, so gesehen, kein psychisches Problem, sondern hängt mit der Zielsetzung zusammen, die wir entsprechend unseren Möglichkeiten vornehmen.

„Gewisse Leute haben Karriereziele, andere wollen ein bestimmtes Auto, und wiederum andere wollen eine Familie gründen. Wenn sie ihr Ziel erreichen, sind sie zufrieden oder, wenn Sie so wollen, glücklich.“ So Martin Denecke, Geschäftsführer der Werbeagenturgruppe Lowe/GGK.

Alles ist scheinbar nur Willenssache. „Sorge dich nicht! Lebe!“ Optimismus ist die Marschmusik des glücklich modernen Menschen, mit ihr erobert er die Gipfel des Erfolgs, ohne sich umschauend nach dem allgemeinen Sinn des Gipfelsturms erkundigen zu müssen. Rückblick lenkt nur ab und gefährdet das Glück des vorwärts Stürmenden. Dieser Wille zur Macht gedeiht durch Beziehungen der Menschen, die von Konkurrenz und nicht von bewusster Gattungsmäßigkeit geprägt sind.

Der glückliche moderne Mensch muss nicht nach allgemeiner Wahrheit oder Erkenntnis streben, um glücklich zu sein. Die Wurzel, aus der Mensch und Menschliches gedeiht, interessiert ihn nicht. Wahrheit, so wird er rhetorisch geschult fragen: Was ist denn das? Was soll das sein? Jeder hat doch seine eigene Wahrheit! Jeder kann nur mit seiner Wahrheit glücklich sein!

Die Wurzel für den Menschen ist der Mensch selbst, das stimmt. Aber, da der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, lebt er in und von den menschlichen Beziehungen, nicht nur von sich und seiner Psyche. Die Qualität einer Gesellschaft prägt ihn auch als Einzelnen. Isoliert er sich und seinen Willen von den menschlichen Beziehungen, was ihm ohnehin nur als Vorstellung, nicht aber tatsächlich gelingen kann, so ist auch sein Glück, das er genießt nach erreichtem Ziel, nur ein vorgestelltes Glück.

Immer ist ein Tropfen Wermut in dem Kelch. Erzielt er den höchsten Umsatz im Betrieb, was ihm Lob und Provision einbringt, so trifft er im Tennisclub – so ein blöder Zufall – gerade auf jenen Rivalen des Konkurrenzbetriebs, dessen Minus sein Plus war. Ärgerlich! Seine Frau traut sich nicht mehr in den Club, denn jener Rivale schimpft im Clubhaus über ihren Mann, dass dessen Plus nur das Ergebnis von Beamtenbestechung und von minderwertiger Produktqualität war. Natürlich scheut der Sieger selbst nicht das Clubhaus. Er prahlt und ist geblendet von seinem Glück. Der Rivale sei nur neidisch und könne nicht verlieren – wie auf dem Tennisplatz! Er zahlt die nächste Runde, man nickt ihm zustimmend entgegen. Er ist erneut im Glück, der Rivale ist besiegt. Der Rivale will nächster Sieger werden. Er weiß auch, wie es glückt.

Die Jagd nach solch verklärtem Glück verschließt die Augen vor dem ganz besonderen Glück, das jenen widerfährt, für die sich beide Rivalen in Feindschaft werfen, und deren Produkte sie zu verbessern und zu verkaufen suchen: das besondere Glück der Industrie. Dieses Glück ist deshalb ein ganz besonderes, weil es sich vor der Öffentlichkeit versteckt. Es versteckt sich in den Arbeitskräften, die auf der Lohn- oder Gehaltsliste stehen. Es ist das besondere Glück der Industrie, „dass die tägliche Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Arbeitstag kostet, obgleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken, arbeiten kann, das daher der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tages schafft, doppelt so groß ist als ihr eigener Tageswert“ (Marx).

Dies versteckte Glück der Industrie, das ja nie als Ziel offen genannt werden darf, verklärt nicht nur die Köpfe vieler Arbeitskräfte und Intellektuellen, sondern es wird für den menschlichen Fortschritt schlechthin gehalten, auf den kein weiterer Schritt menschlich ökonomischer Entwicklung folgen könne. Dies versteckte Glück ist die Grundlage unzählig vieler verklärter oder entfremdeter Glücksmomente. Sie haben meist hier ihre Wurzeln.

Wer sich an diesem versteckten Glück vergreift, es gar als gesellschaftliche Fessel des Fortschritts kritisiert, wird milde belächelt und in die Kiste der DDR-Nostalgiker abgeheftet, auf der dick „Glücklose Gesellschaft“ geschrieben steht. Endlich durften auch die Menschen im Osten auf den Markt der Glückssucher treten, wenn das kein Fortschritt ist!

Wahres Glück findet sich jedoch nicht auf den Märkten, hier lassen sich nur Waren aller Art, tote und lebendige, finden, deren einer Zweck der Verbrauch ist. Sie legen sich wie Hüllen und Verpackungen um die Menschen. Wahres Glück schaut hinter die Kulissen mit ihren Marktschreiern und Glücksverheißern, es aktiviert die ständige Gleichzeitigkeit von Ich und Wir, von Wir und Ich, durch die erst Ziele deutlich werden, die lange schon im Innern der Gesellschaft schlummern.

Wahres Glück sucht Wahrheit in den menschlichen Beziehungen, es sucht die Menschen in den Waren und macht bewusst, dass die Wurzel für den Menschen der Mensch selbst ist und keine sachlichen Gewalten. „Diesmal lasst mich/ glücklich sein,/ keinem ist etwas geschehen,/ und ich bin nirgendwo,/ einziges Ereignis ist,/ dass ich glücklich bin/ beim Gehen, beim Schlafen,/ beim Schreiben über das ganze/ Rund meines Herzens.“ (Pablo Neruda)

JÜRGEN MEIER, 50, lebt als freier Publizist in Hildesheim. Im Frühjahr erscheint im Aufbau Verlag sein Buch „Fortunas Kinder. Glücksstreben in der Moderne“. Unter gleichem Titel bringt Deutschlandradio Berlin am 15. Januar, 14.40 bis 15.00 Uhr, einen Beitrag von ihm zum Thema Glück und Glückssuche